Vom Sollen und Wollen auf dem Weg in die Selbstorganisation

von Sabine Piemeisl

 

„Wo ich bin, will ich sein. Und wenn ich mich entschieden habe, bin ich 100% präsent.“ Jens Corssen

1. Mögliche Auslöser und Motivationslagen, Selbstorganisation zu wagen

„Weil unsere Führungskräfte es nicht mehr hinkriegen, das Unternehmen erfolgreich zu leiten, sollen wir jetzt selbstorganisiert arbeiten.“ Diesen Satz formulierte ein Teilnehmer im Team-Coaching für ein Unternehmen, das sich als streng hierarchisch strukturierte und geführte Organisation auf den Weg in die Selbstorganisation begeben hatte. Nun bietet diese Aussage eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten und Anregungen zum Nachdenken.

Die oben kriegen es nicht mehr hin, jetzt sollen wir hier unten es wuppen. Wir könnten uns schon vom schwachen Verb hinkriegen dazu verführen lassen, Kompetenzen einzelner Führungskräfte auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen im Unternehmen zu analysieren. Sicherlich würden wir, mit einem entsprechend defizitären Blick, fündig. Wahrscheinlich hat die eine oder der andere in funktionaler Führung (noch) nicht genügend Kraft und Kompetenzen entwickelt, um in Führung gehen zu können oder zu wollen. Doch reicht der fokussierte Blick auf Führungspersönlichkeiten und deren individuelle Kompetenzen nicht aus. Er ermöglicht keine sinnstiftenden Erklärungen dafür, aus welchen Gründen Unternehmen eine bisher gewohnte hierarchische Führungsstruktur verlassen und den Weg in die Selbstorganisation beschreiten. „Sie sind keine verschwindende Minderheit mehr, es sind nicht mehr ein paar Spinner oder Gutmenschen, die ihr Unternehmen anders führen und gestalten, als man es kennt und erwartet, als man es in jedem betriebswirtschaftlichen Studium gelernt hat. Sie sind keine Aussteiger, sondern ökonomisch erfolgreich, also ‚Teil des Systems’, mit zufriedenen Mitarbeiter*innen und angstfreien Manager*innen.“ (changeX – Unternehmen, die es anders machen 2017 S. 1) Das Paradigma der traditionell hierarchisch gegliederten Organisation zu verlassen und innovative Steuerungsformate zu entwickeln, erfordert starke Auslöser und Motivlagen, wie zum Beispiel:

  • Generationenübergabe in Familienunternehmen und die damit einhergehende Ablösung von Haltungen und Vorstellungen der Vorgängergeneration
  • Impulse aus den relevanten Umwelten des Unternehmens (der beschleunigte soziale und gesellschaftliche Wandel, veränderte politische, gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen, stetige Professionalisierung etc.)
  • Veränderte Anforderungen und Erwartungen von Kund*innen
  • Rasches Wachstum des Unternehmens
  • Erhöhung der Komplexitätsanforderungen
  • Persönliche Anliegen und Wertvorstellungen der Unternehmensleitung oder Inhaber*innen (Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, Sinnorientierung, Abbau von Überlastung, Neugier, veränderte Visionen etc.)

Disruptive Umweltveränderungen fordern neue Organisationsformen und Organisationsprinzipien. Eine mögliche Antwort darauf ist, Selbstorganisation im Unternehmen auf die Bühne der sogenannten VUKA-Welt[1] zu bringen.

 

2. Das Sollen und die Herausforderungen auf dem Weg in die Selbstorganisation

Versuchen wir nun herauszufinden, ob das Sollen im Mindset der Akteure ein erfolgreiches Bühnenstück namens Selbstorganisation hervorbringen kann. Kommen wir zunächst auf die Aussage des Mitarbeiters aus dem Workshop zurück und betrachten den zweiten Teil des Satzes: „…, sollen wir jetzt selbstorganisiert arbeiten“. Sollen ist im deutschen Sprachgebrauch ein Modalverb. Dieses Verb drückt eine Notwendigkeit aus, die sich aus einer Aufforderung an das Subjekt ergibt. Es bedeutet einen Appell, eine Anweisung oder einen Auftrag zu haben, etwas Bestimmtes zu tun. Gehen wir mal davon aus, das Sollen sei typisch für die Funktionalität hierarchisch gegliederter Organisationen. Jahrzehntelang war das auf Max Weber und Frederick W. Taylor zurückgehende funktionale Gliederungsprinzip geprägt von einer dominanten Organisationslogik. Die Funktionalität der Hierarchie hatte und hat Vorteile: Sie ist zur Koordination vieler Personen und Handlungen in der Lage, kann unterschiedliche Teileinheiten der Organisation integrieren, schafft Spezialisierung, Standardisierung, klare Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche. Zum Gelingen entwickelte sie u.a. eine hohe Gliederungstiefe, Entscheidungszentralisation, geringe laterale Koordination und eine große Menge formaler Regelungen. Die Führungsrichtung verläuft von oben nach unten. Entscheidungen darüber, was getan werden soll, werden von anderen Personen getroffen als von denjenigen, die dies umzusetzen haben. Oestereich und Schröder nennen diese Vorgehensweise das Push-Prinzip (Oestereich/ Schröder 2020). Was eine hierarchisch gegliederte Organisation braucht, sind Mitarbeitende, die das Sollen im moralischen Sinn der Aufgabenerfüllung, des Respekts und der Loyalität ernst nehmen, sich entsprechend verhalten und handeln. So weit, so funktional.

Selbstorganisation ist ebenfalls als ein Prinzip der Ordnungsbildung in sozialen Systemen zu verstehen Es gelten jedoch andere Organisationsprinzipien. „Aktuell sieht es so aus, als ob in Zeiten der Arbeitswelt 4.0 die netzwerkartige Kooperation für diese Anforderungen am vorteilhaftesten ist. In der Konsequenz findet sich ihr Kooperationsmuster auch in vielen unterschiedlichen Methoden und Ansätzen wieder.“ (Geramanis 2020 S.17) Gestaltende Einflüsse und strukturelle Ordnungen gehen von den Elementen des Systems selbst aus. Sich der Selbstorganisation zu stellen birgt die Herausforderung, „neue“ Arten ineinandergreifender Strukturen, Kopplungen und der Zusammenarbeit zu gestalten, die bislang aus keinem der bisher bekannten Mechanismen und Organisationsmustern eins zu eins übertragbar wären.[2]

Der zitierte Mitarbeiter erlebte einen Top-down-Ansatz, der die Implementierung von Selbstorganisation im Gesamtunternehmen beabsichtigte. An diesem Ausgangspunkt des Unterfangens scheint das Sollen unangetastet zu bleiben. Der Appell der obersten Führungsebene, kollegiale Führung umzusetzen, birgt eine Paradoxie in sich: Hierarchie initiiert Selbstorganisation. Kann das gelingen? Anscheinend ja. Entsprechende Transformationsprozesse, angestoßen und ermöglicht von der oberen Führungsebene, sind bereits in vielen Wirtschafts- und Sozialunternehmen sowie auch in Institutionen erfolgreich gewesen. Was spräche auch dagegen? Wollen und Einfluss der oberen Hierarchieebenen können am Anfang des Weges in die Selbstorganisation stehen. Vor allem in streng hierarchisch strukturierten und geführten Organisationen braucht es Initiator*innen, die mit funktionaler Macht ausgestattet sind. Doch kommen Organisationen nicht weit, wenn Führung sich nicht gleichzeitig im Loslassen übt. Damit den obersten Führungskräften geglaubt werden kann, müssen sie die hierarchische Pyramidenstruktur der Organisation, die Führungsrichtung von oben nach unten sowie auch sich selbst in ihrer bisherigen Führungsfunktion in Frage stellen. Will das neue Bühnenwerk Selbstorganisation erfolgreich werden und seinem Namen alle Ehre machen, heißt es Abschiednehmen von der Illusion der Machbarkeit und der Planbarkeit – besonders von der Idee, „die an der Unternehmensspitze“ könnten weiterhin uneingeschränkte Regie führen, müssten alles verstehen, verantworten und steuern.

Im Rahmen der neuen Organisationsausrichtung braucht es ein zunehmendes Bewusstsein der Führung darüber, dass die formale Macht in der Selbstorganisation fachlich oder situativ begründet ist und sich immer wieder verändert (siehe Eugster Stamm/ Kaegi 2019 S. 257). „Kollegiale Führung ist die auf viele Kollegen dynamisch-selbstorganisierte verteilte Führungsarbeit an Stelle auf spezielle und vorgesetzte Führungskräfte konzentrierte.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 8) Damit verschwindet nicht die Macht aus der Organisation. „Die gewohnte Linienabstufung der Macht fällt weg. Es kann nicht mehr von oben nach unten durchgegriffen werden, aber auch nicht von unten nach oben. Trotzdem bleibt Macht ein wesentlicher Faktor, sie wird durch Selbstorganisation nicht aus der Organisation verbannt.“ (Eugster Stamm/ Kaegi 2019 S. 256) Die Machtverteilung ändert sich. Führung kann nicht länger funktions- und personenbezogen bleiben, sondern stellt sich mehr und mehr in den „Dienst der Sache“ selbst. Sinn-Orientierung, in der die Struktur, die geltenden Regeln der Ausfüllung, die Leistungen der Mitarbeitenden und nicht zuletzt Führung dem Sinn der Organisation dienen, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Führung wird verstärkt als ein sozialer Prozess gedacht, als ein Resonanzgeschehen (siehe Rosa 2016) und nicht als eine – an definierte Personen geknüpfte – Funktion. Mitarbeitende werden mit Macht und Einfluss ausgestattet. Ermächtigte Mitarbeitende, Teams und Einheiten der Organisation entscheiden in einem verbindlichen und klar kommunizierten Rahmen selber, was sie erledigen können und wie sie dies am besten tun. Durch transparente Wahlen nehmen Mitarbeitende für einen vorab festgelegten Zeitraum Rollen ein. Eine Rolle wird in diesem Kontext definiert als Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich innerhalb einer Organisationseinheit, die von einer gewählten Person wahrgenommen wird und bestimmten sachdienlichen Themen (Finanzen, Planung, Repräsentation, Lernbegleitung, fachliche Themen etc.) zugeordnet ist. Das Management lernt, die Rolleninhaber*innen und Teams zu unterstützen und zu erkennen, welche Kontexte bei Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. So fördert es Selbststeuerung und Selbstorganisation. Enorme Schieflagen entstehen allerdings dann, wenn die unmittelbare Verfügbarkeit und Nutzungsbefugnis von Ressourcen (Zeit, Geld, Zugang zu Daten und Informationen, Raum, Beziehungen etc.) als quasi „letzte Insignien der Macht“ hauptsächlich auf den hierarchischen Führungsebenen belassen bleiben. In orientierenden internen Kommunikationsprozessen, analog oder digital, sind Diskurse und vielschichtige Aushandlungen darüber nötig, welche Zugänge zu Ressourcen und welche Befugnisse in welchem Maß der Kolleg*innenschaft übergeben werden. Der organisationsinternen Kommunikation kommt in den dynamischen Veränderungsprozessen hin zur Selbstorganisation eine zentrale Bedeutung zu. Sie erfährt einen Wandel von rein funktional-instrumentellen Zielen zu einer Kommunikation auf Augenhöhe. Sie informiert ganzheitlich, konstituiert, reproduziert, entwickelt Strukturen und versetzt Rollenträger*innen und Teams erst in die Lage, selbstverantwortlich im Sinne der Gesamtorganisation zu entscheiden, zu handeln und Risiken zu übernehmen (Jecker/ Huck-Sandhu 2019 S. 366). Diese Neuausrichtung interner Kommunikation ist auch eine Grundlage dafür, dass Entscheidungskompetenzen dorthin wandern können, wo die Dinge geschehen. Um all diese Paradigmenwechsel zu initiieren, sinn- und wertvoll zu gestalten, mit Leben zu füllen und die damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen, reicht ein Sollen nicht aus.

 

3. Selbstverantwortung übernehmen – Sollen oder Wollen?

Das Sollen der Mitarbeitenden im moralischen Sinn der Aufgabenerfüllung, wie es in der Funktionalität hierarchisch gegliederter Organisationen von Bedeutung ist, verliert auf dem Weg zur Selbstorganisationen nicht nur seinen Nutzen, sondern lädt schon auf den ersten Metern der Wegstrecke zu kontraproduktivem, ungünstigem Verhalten ein. Damit der Transformationsprozess gelingen kann, braucht es die Ausrichtung der Kolleg*innenschaft auf das Prinzip der Selbstverantwortung. Dieses Prinzip ist über Machtverteilung, neu entstehende Organisationsstrukturen, Kommunikations- und Entscheidungsszenarien mit anderen sowie auch mit dem Ganzen gekoppelt und hat die Anliegen der Kund*innen ebenso wie den Sinn des Unternehmens im Fokus. Ohne die Übernahme von Selbstverantwortung durch die Mitarbeitenden, erweitert um die Perspektive auf Gesamtverantwortung für das Unternehmen, wird der Weg in die Selbstorganisation versperrt bleiben. Schon fächert sich eine nächste Herausforderung auf. Selbstverantwortung kann nicht eingefordert werden, Verantwortung kann nur übernommen werden. Selbst durch intensive Teamentwicklungen können in Organisationen keine „Gemeinschaften“ hergestellt werden, in der die „Erzwingbarkeit nichterzwingbarer Leistungen“ (Fuchs 2014) oder die Freiwilligkeit zur sozialen Pflicht gemacht werden könnte. „[Ich] schlage vor, das klingt vielleicht paradox, [dass] man sich um ein weniger technisches, dafür um ein mehr menschliches Verständnis bemüht. Man ist in der Absicht zurückhaltender, Wirkungen zu erzeugen […]. Man trifft z.B. in Organisationen häufig auf die Vorstellung: ‚Wir müssen die Mitarbeiter motivieren!‘, statt ihnen Gelegenheiten zu bieten, sich selber zu motivieren.“ (Luhmann 1997 S. 72)

In der klassisch hierarchischen Organisationsstruktur sind Denken und Handeln, Entscheiden und Umsetzen offiziell voneinander getrennt. Diese Vorgehensweise führt zu Verantwortungsverlusten. „Die Umsetzer fühlen sich allenfalls verantwortlich für ihr unmittelbares Ergebnis, nicht aber für die Lösung des dahinterliegenden Problems und der Bedeutung der Problemlösung. Und die Führungskräfte sind zwar hierarchisch verantwortlich für ihre Entscheidungen, versuchen aber, diese der Umsetzung zuzuschreiben.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 36) Wenn in der Selbstorganisation sukzessive eine Einheit von Denken und Handeln bzw. Entscheiden und Umsetzen ermöglicht wird, können Gestaltungsräume jenseits von sinnfreien Erzeugungsversuchen entstehen. Wenn Arbeit nicht länger verteilt, die Verantwortung für Ergebnisse oder Problemlösungen den Mitarbeitenden nicht mehr zugeschoben würde, könnten sie von geeigneten Personen wahrnehmbar und übernommen werden. Unabdingbar ist das Sichtbarmachen von ganzheitlichen Arbeitsprozessen, Aufgaben, Ideen und auch Spannungen im jeweiligen Arbeitsbereich sowie den internen Schnittstellen der Organisation. Dies kann über die konsequente Einführung und Pflege von Kanban-, Team- oder Companyboards gelingen. Arbeit und Verantwortung treten so in die Aufmerksamkeit einer Person, die sich dann entscheiden kann, sie zu übernehmen (ebenda). Ebenso kann sich eine Person von einem Problem oder einem Konflikt so angesprochen oder provoziert fühlen, dass sie es lösen will (Wohland 2019). Statt des Push-Prinzips entsteht dann ein Pull-Prinzip. Von der anstehenden Arbeit, den zu lösenden Problemen geht in der Selbstorganisation ein Sog aus, von dem sich die Mitarbeitenden motivieren lassen, die Sache anzugehen und Verantwortung zu übernehmen. „Das Sogprinzip ist elementar, unverzichtbar und unersetzlich für eine agile Organisation. Ohne Anregung eines Sogs durch geeignete Strukturen und Prozesse wird es zu keiner proaktiven Selbstorganisation kommen.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 36)

Wenn sich im Rahmen der beschriebenen Umgestaltungen das Pull-Prinzip zu einem der grundlegenden Organisationsprinzipien der Selbstorganisation entwickelt und ausdifferenziert, entfernen sich die Organisationsmitglieder immer weiter vom Sollen. Dürfen die Mitarbeitenden einen Verantwortungsbereich und die darin enthaltenden Aufgaben übernehmen, weil er ihnen zur Verfügung gestellt wird, kann sich auch das Wollen[3] entfalten. Was genau wollen wir übernehmen, wen oder was brauchen wir dazu, wer von uns übernimmt was? (Siehe Kontextbrücke; ebenda S. 58) Sogleich richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Ausweitung und Stabilisierung des Könnens sowie eine Einübung neuer Haltungen der Mitarbeitenden. Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen wollen erworben, ausprobiert und in einem fortwährenden schleifenförmigen Prozess reflektiert werden. Alle Akteure im Bühnenstück der Selbstorganisation tun gut daran, unterschiedliche Formen des Lernens, von externen oder internen Expert*innen begleitet, zu nutzen. Organisationsbegleitung, Coachings, Trainings und Workshops bieten sich als geeignete Formate an.

Ermöglichung, Förderung und Erhaltung intrinsischen Antriebspotenzials aller am Prozess Beteiligten verhilft zu langem Atem. Den braucht jede Organisation auf ihrem Weg in die Selbstorganisation und zur Überwindung von Stolpersteinen verschiedener Art. Mit dem aus der hierarchisch strukturierten und geführten Organisation gewohnten Sollen kommen die Akteure über die erste Wegstrecke nicht hinaus. Das Wollen auf allen Ebenen der Organisation ist der relevante Motivationsmotor.

 

4. Was wir von hier aus sehen können – Zusammenfassung in Thesen

„Bei dem neuen Paradigma, das wir erschaffen müssen, geht es darum, Systeme zu kreieren, die das Beste in jedem/r von uns hervorbringen.“ (Grace Lee Boggs, 2010 )

  • Die Führung und besonders die oberste Leitungsebene braucht Mut, sich auf neues Terrain zu wagen. Es sind hauptsächlich disruptive Umweltveränderungen und steigende Komplexitätsanforderungen, von denen Impulse mit starkem Aufforderungscharakter ausgehen, um Selbstorganisation als Struktur- und Steuerungsformat zu etablieren.
  • Selbst wenn das Sollen anfänglich noch von Bedeutung ist, braucht die Entwicklung von einer hierarchisch strukturierten und geführten Organisation zur Selbstorganisation das Wollen auf allen Ebenen der Organisation, um enorme Paradigmenwechsel zu initiieren, auszuhalten und zu gestalten.
  • Auch wenn Selbstorganisation durch einen Top-down-Ansatz initiiert wird, liegt es bald nicht mehr an den vorgesetzten Führungskräften, zu sagen, was zu tun ist.
  • Der eingeschlagene Weg in die Selbstorganisation kennt keine Abkürzungen. Selbstorganisation lässt sich nicht anordnen, geschweige denn erzwingen. Sie organisiert sich in Ermöglichungsräumen selbst und kann in jeder Organisation unterschiedlich sein.
  • Rollenträger*innen und Teams kann ermöglicht werden, selbstständig zu erkennen, was ansteht, welche Entscheidungen zu treffen und welche Handlungen nötig sind, um die Organisation voranzubringen.
  • Die Verteilung von Autorität und Macht ist ebenso maßgeblich für eine gelingende Selbstorganisation wie das Zur-Verfügung-Stellen und die Nutzungsermöglichung von Ressourcen.
  • Der Grad der Selbstorganisation „ergibt sich“ aus der Kompetenzentwicklung, der erlaubten, zugetrauten und aktiv übernommenen Selbstverantwortung von Rollenträger*innen und Teams.
  • Die Ausrichtung der organisationsinternen Kommunikation auf Augenhöhe spielt in diesem Transformationsprozess eine zentrale Rolle.
  • Der Prozess will von unterschiedlichen Formen des Lernens und der Kompetenzentwicklung unterstützt werden. Externe und interne Lernbegleitungen für Führungskräfte und Mitarbeitende unterstützen den Prozess ebenso wie ritualisierte Reflexionsformate.
  • Das Oben-Unten-Schema der klassischen Hierarchie verflüchtigt sich nicht von selbst. Es ist nützlich für alle Organisationsmitglieder, sich auf dem Weg in die Selbstorganisation von der Zuversicht begleiten zu lassen, dass sich Veränderungen sukzessive konkretisieren, durch Phasen der Erprobung sowie auch des kreativen Scheiterns wirksam und als belastbare Strukturen und Entwicklungen etabliert werden können.
  • Erst durch viele unterschiedliche Ermöglichungen kann sich das bisher gewohnte Paradigma des Sollens in kleinen Schritten zum Wollen transformieren. Dieser Prozess ist zeitintensiv und anstrengend. Was wir jedoch von hier aus sehen können, scheint es sich unbedingt zu lohnen, sich auf den Weg zu machen.

[1] VUKA ist ein Akronym, mit dem verschiedene Facetten der Unübersichtlichkeit der modernen Arbeitswelt umrissen werden:

Volatilität – Flüchtigkeit: Alles kann sich schnell verändern.

Unsicherheit – Sichere Prognosen sind in Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr möglich.

Komplexität – Vieles hängt mit Vielem zusammen, erzeugt Wechselwirkungen und Risiken.

Ambiguität – Mehrdeutigkeit: Jede Beschreibung/ Erklärung/ Bewertung könnte auch anders sein.

[2] Selbstorganisation ist nach dem Verständnis einiger Autoren, z.B. Stefan Kühl, eine alte Managementmode mit neuer Begrifflichkeit (Kühl 2018). Eine interessante Auseinandersetzung mit Kühls Kritik an der Selbstorganisation hat Peter Zängl geschrieben (Zängl 2020).

[3] Wollen interpretiere ich in diesem Zusammenhang als eine Fähigkeit des Menschen, sich für bestimmte Handlungen zu entscheiden. Für Immanuel Kant sind Wille und Freiheit unmittelbar miteinander verknüpft. In seiner Philosophie erlebt der Mensch durch Wahlfreiheit das Abwägen des Willens. Der Entscheidungsprozess durch Maximen und den kategorischen Imperativ bezeichnet die Freiheit des Willens für vernunftgeleitete Wesen bei Kant.


Literatur

ChangeX: Unternehmen, die es anders machen: Organisieren, Steuern, Führen. Online-Medium für Zukunftsideen, neue Wirtschaft und Innovation www.changex.de 2017

Corrsen, J.: Der Selbst-Entwickler. Wiesbaden 2013

Eugster Stamm, S. & Kaegi, U.: Von Orange zu Türkis: Herausforderungen für die Führung beim organisationalen Wandel zu einer integral-evolutionären Organisation. In: Fröse, M. & Naake, B. & Arnold, M. [Hrsg.]: Führung und Organisation. Neue Entwicklungen im Management. Wiesbaden 2019

Fuchs, P.: Organisation und Communio – zur Crux der Selbstbeschreibung von Organisationen als Familie. In: Geramanis, O. & Hermann, K. [Hrsg.]: Organisation und Intimität. Umgang mit Nähe im organisationalen Alltag zwischen Vertrauensbildung und Manipulation. Heidelberg 2014

Jecker, C. & Huck-Sandhu, S.: Von der Information zur Orientierung. Zur (neuen) Rolle der internen Kommunikation in der Selbstorganisation In: Geramanis, O. & Hutmacher, S. [Hrsg.]: Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt. Wiesbaden 2020

Kaegi, U. & Zängl, P.: Was ist Management? In: Wöhrle, A. [Hrsg.], Organisationsentwicklung Change Management. Nomos-Verlag. Baden-Baden 2019

Kühl, S.: Agilität, Holacracy und andere Managementmethoden…https://www.youtube.com/watch?v=LPlztwNSxyg.) 2018

Luhmann, N: Wie konstruiert man in eine Welt, die so ist, wie sie ist, Freiheiten hinein? In: Bardmann, T. [Hrsg.]: Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie. Opladen 1997, S. 72.

Oestereich, B. & Schröder, C.: Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München 2020

Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016

Wohland, G.: Unternehmensentwicklung in Zeiten hoher Dynamik. In: Geramanis, O. & Hutmacher, S. [Hrsg.]: Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt. Wiesbaden 2020

Zängl, P: «Einwurf» – Selbstorganisation zwischen Mode und Innovation. Zur Kritik von Stephan Kühl an den Konzepten der Selbstorganisation. https://netzwerkselbstorganisation.net/artikel/2020_5/


Autorin:
Sabine Piemeisl Dipl. Politologin, MA Organisationsberatung Supervision Coaching mit über 25 Jahren Erfahrung als Unternehmerin.

Impulsgeberin und Prozessbegleiterin für agile Organisationsentwicklung, Coach und Supervisorin DGSv, Trainerin, Mediatorin, Moderatorin.

www.piemeisl-consulting.de

„HR mal wieder neu denken?“ – Plädoyer für einen Kulturwandel im Personalbereich

Entwicklungstendenzen des Personalbereichs

Die Bedeutung der Personalarbeit hat sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte grundlegend gewandelt (Bratscher, 2008 S.92). Der Personalbereich in deutschen Unternehmen, Human Resources (HR) genannt, hat zahlreiche Suchbewegungen zur Identitäts- und Profilierungsfindung unternommen. Die Auswertung einschlägiger Publikationen lässt folgende Entwicklungstendenzen erkennen: Ende der 70er,  Anfang der 80ger Jahre folgte dieOrganisation des Personalwesens funktional-zentralistischen Prinzipien. Die immer umfänglicher werdenden Aufgaben der Personalabteilung wurden in Teilbereiche aufgegliedert, die von jeweils spezialisierten Mitarbeitern unter der Verantwortung einer einheitlichen Personalleitung zentral für das gesamte Unternehmen wahrgenommen wurden. Als Vorteil dieser Organisationsform galt zum einen die Gewährleistung von vergleichbaren Regelungen für alle Mitarbeiter, zum anderen eine übersichtliche Kompetenzverteilung und schnelle Aufgabenentwicklung durch fachliche Spezialisierung. Die Kritik an dieser Organisationsform bezog sich in jenen Jahren auf das überzogene Verwaltungs- und Ressortdenken der Funktionsspezialisten, die mangelnde Berücksichtigung von Interdependenzen zwischen einzelnen Teilaufgaben, die Zersplitterung der Betreuungsfunktion gegenüber Mitarbeitern und Linienvorgesetzten, die mehrere Ansprechpartner hatten. Nicht zuletzt wurde eine gewisse ‚Gleichmacherei‘ kritisiert, die bei zunehmender Größe und Differenzierung des Unternehmens verstärkt zu ungemessenen Lösungen und damit mangelnder Akzeptanz führen konnte. „Zumindest bis zum Beginn der neunziger Jahre, möglicherweise bis heute, scheint es das vorherrschende Organisationsprinzip geblieben zu sein“ (Bahnmüller/Fisecke, 2003 S. 10).

Mit der Dezentralisierung von Unternehmen gingen Veränderungen der inner- und zwischenbetrieblichen Koordinations- und Steuerungsmechanismen im Sinne betriebsinterner Märkte einher. Diese Entwicklung hatte maßgebliche Rückwirkungen auf Identität, Status als auch auf die Handlungsorientierung des Personalbereichs. Die Hinwendung des Personalwesens zum „Dienstleister“ war eine Konsequenz daraus. Formen dezentraler Personalarbeit  standen und stehen zum Teil noch heute im Fokus: Integrationsmodelle, Rückdelegationen an die Linie, virtuelle Personalabteilungen, Personalreferentensysteme nach dem Holding-Prinzip, Wertschöpfungscenter etc. Innerhalb der Organisationen sollte der Personalbereich die Chance nutzen, den reaktiven Habitus der traditionellen Personalarbeit abzustreifen. Zu spät, zu aufwendig und mit erheblichen Funktionsverlusten tätig zu werden sollte ein Ende finden. Der Personalbereich hatte die Aufgabe, mit der technischen Planung nicht nur gleichzuziehen, sondern in Vorlauf zur technischen Planung zutreten und die Initiativrolle bei der Organisations- und Unternehmensentwicklung zu übernehmen. Vor allem sollte das Personalwesen endlich „strategisch“ werden. „Die Zeit schien reif für ein integratives, proaktives und vor allem strategisches Personalmanagement. Eben weil die „Ressource Mensch“, durch die arbeitskraft- und organisationszentrierten Rationalisierungsstrategien untermauert, zu einem immer wichtigeren Kapital der Unternehmen wurde, galt es als geradezu fahrlässig, dem Personalressort den ihm gebührenden Einfluss zu verwehren“ (Ebenda. S.12). Das Personalwesen im 21. Jahrhundert war keine nachgelagerte betriebliche Teilfunktion mehr, die sich durch kurzfristig reaktives Verhalten auszeichnet (Bratscher, 2008, S. 92).

Mit zunehmender Dezentralisierung wurden jedoch die Integrationsfunktion des Personalbereichs und damit der Zusammenhalt des Ganzen in Gefahr gesehen. In einigen Unternehmen hatten diese Befürchtungen  Re-Zentralisierungstendenzen und die Stärkung der zentralen Funktion von HR im Zentrum zur Folge.  In großen Unternehmen wurde beispielsweise eine zentrale Führungskräfteentwicklung und damit ein konzerneinheitliches System für alle beteiligten autonomen Unternehmenseinheiten konzipiert und durchgeführt. Die Gründe für den Kurswechsel lagen in erwarteten Rationalisierungseffekten,  erhofft durch konzernweit einheitliche Lohn- und Gehaltsabwicklung,  Behebung von Integrationsproblemen, die in Folge der vorgängigen Dezentralisierungsbestrebungen entstanden waren. Eine stärkere Professionalisierung der Personalarbeit wurde angefordert. Das Motto war nun: Autonomie der Bereiche, allerdings in einem von der Zentrale auf der Basis professioneller Standards vorgegebenen und standardisierten Rahmen (Vgl. Bahnmüller/Fisecke, 2003).

Gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische Entwicklungen waren immer Anlässe und Ursachen der Veränderungsdynamiken und trugen das ihre dazu bei, eine Identitätskrise des Personalbereichs eher zu verstärken als abzumildern. Die Varianz der Entwicklungsmöglichkeiten war und ist nach wie vor groß und mit ihr die Orientierungsunsicherheit, wie sich HR als professioneller Akteur in Unternehmen zukünftig weiterentwickeln kann.

HR mal wieder neu denken

Jetzt ist es wieder soweit. Auf den Bereich Human Resources kommen erneut große Transformationsanforderungen zu. Die auf dem Kongress des Bundesverbandes der Personalmanager (BPM) im Juni 2017 vorgestellte Studie „Rethinking HR“¹ bestätigt dringenden Handlungsbedarf in vier Fokusbereichen:

  • die Gestaltung der gesamten Organisation,
  • das Design der Arbeit, um die Zusammenarbeit in Teams zu optimieren und deren Arbeitsergebnisse zu verbessern,
  • die nachhaltige Betreuung und Entwicklung von Mitarbeitern sowie
  • die digitale Gestaltung von HR – Prozessen.

„Personaler sind auf der Suche nach einer neuen Positionierung im Unternehmen. Eine Studie gibt erste Antworten, wohin die Reise gehen kann – und liefert ein erschreckendes Bild des Status quo im deutschen Personalmanagement, “ so berichtet der Harvard Business Manager in seiner Juli Ausgabe. In der Studie befragte Führungskräfte messen HR eher die Rolle als Dienstleister im Unternehmen zu und kritisieren das Personalmanagement als eine Abteilung, in der alle noch zu sehr in den eigenen Strukturen gefangen seien. Zwar seien einige Unternehmen schon mit großen HR Transformationen beschäftigt, aber es gebe auch „immer noch viele deutsche Eichen, die HR eher aus dem 20. Jahrhundert betreiben“ (Endres/Kestel 2017, S. 8 ff.). Als große Herausforderung betrachten die Personaler die effiziente und digitalisierte Gestaltung von HR – Prozessen.

Zukünftig wird digitalisiert werden, was Menschen gegenwärtig digitalisieren können. Diese Entwicklung wird vor HR nicht Halt machen. Die Automatisierung aller operativen HR-Prozesse, die digitale Analyse aller geschäftsrelevanten Informationen, State-of-the-Art-Rekrutierungsprozesse, um nur einige Anforderungen an HR aus einer langen Liste zu nennen (Kiefer, 2015.) Doch, so ein Studienergebnis, sehen die befragten Personalmanager eine Kluft zwischen aktuell großem Handlungsbedarf und fachlicher Kompetenz. „Lediglich 4 Prozent stufen die HR – Kompetenz ihres Unternehmens diesbezüglich als hoch oder sehr hoch ein“ (Endres/Kestel, 2017 S. 10). Wollen Personalabteilungen künstliche Intelligenz – Tools nutzen, die es ja schon gibt, müssen sie jetzt dringend digitale Expertisen aufbauen, so Prof. Christian Gärnter, Studienautor und Professor für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Digitale Transformation und Leadership an der Quadriga Hochschule Berlin. Zudem wird der vermehrte Einsatz künstlicher Intelligenz und Robotik die Personalarbeit enorm vereinfachen. Dadurch werden Ressourcen für andere Aufgabenfelder und Arbeitsschwerpunkte frei werden. Nicht zuletzt wird mal wieder die Einflussnahme  von HR bei strategischen Unternehmensentscheidungen gefordert und zwar auf Augenhöhe mit anderen Vorstandsmitgliedern. „Das sind wichtige Maßnahmen, will man die Zukunftsfähigkeit sichern“ (Ebenda). Das sind in der Tat große Aufgaben, innerhalb derer weitere Herausforderungen gemanagt werden wollen. Zunehmend begegnen wir in unserer Arbeit als Organisations- und Personalentwickler in Unternehmen misslichen Reibungen zwischen wertschöpfenden Unternehmensbereichen und HR, die durch unterschiedlich beschleunigte Dynamiken erzeugt werden.

Die Kunst unterschiedliche Dynamiken auszubalancieren

Die wertschöpfenden Unternehmensbereiche haben eine Grenze zum Außen des Unternehmens, direkt zum Markt und zu den Kunden. Dort an der Peripherie sind Veränderungs- und Beschleunigungsimpulse, die von außen in die Arbeitswelt hineingesendet werden, besonders spürbar. „Wenn außen der Markt regiert, ist es innerhalb der Organisation die Peripherie, die Geld verdient, am Markt lernt, sich schnell und intelligent anpassen kann“ (Pfläging, 2016 S. 24). Industrie 4.0 fordert Tribut. Der Markt, die Mitbewerber, Qualitätsansprüche und Kundenbedürfnisse differenzieren sich zunehmend aus, Dienstleistungen und Service werden bis 2020 einen höheren Umsatzanteil ausmachen, der Druck auf die Margen im reinen Produktgeschäft wird steigen, wir werden „Operational Excellence durch digital veredelte Wertschöpfungsprozesse“ erfahren (Sames, 2016). Berufsbilder werden sich verändern. Einige Berufe werden nicht mehr gebraucht werden, andere werden „Upgrades“ benötigen, wieder andere Berufsbilder werden völlig neu entstehen.

Abbildung 1: Zentrum und Peripherie. Pfläging 2016

Viele Unternehmensbereiche an der Peripherie sind schon längst von der VUKA Welt² in Empfang genommen worden und agieren bereits mit der erforderlichen Agilität. Das Gelingen setzt enge und reibungsarme Zusammenarbeit mit HR voraus. Geht es doch um zügige und flexible Besetzungen von vakanten Stellen mit entsprechend qualifizierten Arbeitskräften, Verringerung von Abstimmungsbedarfen, Synchronisierung von Prozessen, eine Erweiterung von Handlungsoptionen am Standort Zukunft oder um Reduzierung von Komplexität an den Schnittstellen. Genau hier, an den Schnittstellen von HR und den Produktions- und Fertigungsbereichen entstehen die Reibungen, die bisweilen noch unnötig verschärft werden, weil sie in personalisierten Konflikten eskalieren. Es ist oft ein zähes Ringen um die Balance von Bewahren und Verändern. Die beschleunigte Dynamik an der Peripherie trifft nach wie vor auf die Eigenlogik und eine gewisse Systemträgheit im Zentrum der Unternehmen, in dem meistens Steuerungs- und Supportabteilungen, also auch HR angesiedelt sind. Dort herrscht eine andere, weniger von der Beschleunigung des Marktes betroffene Dynamik. Je mehr HR die Logik des eigenen Systems kultiviert, landläufig auch Silodenken genannt, desto vehementer werden bisweilen die Anforderungs- und Anpassungsanliegen der VUKA-Peripherie abgewehrt, innovative Denkprozesse zugunsten des Bewahrens eigener Strukturen und Prozesse verhindert. Brauchbar wäre, wenn HR permanent in die Organisation hineinhört, „also kontinuierlich Feedback zu Kultur, Zufriedenheit und Arbeitsweisen einholt und auch daran arbeitet, das Silodenken in der Organisation abzubauen“ (Endres/Kestel, 2017 S. 10). Dazu wird es auch weiterhin die Aufgabe von HR sein, selbst aus dem eigenen funktionalen Silo herauszutreten, um die Zusammenarbeit der Menschen, die agil ihre Aufgaben erfüllen, menschenorientiert und nicht nur prozessorientiert zu unterstützen.

Neu denken oder zielgerichtet handeln?

Aber wie kann der Weg in die Zukunft gelingen in einer Welt der Wechselhaftigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Vieldeutigkeit? Der Wunsch nach Rezepten, eindeutig definierten Entwicklungspfaden, nach exakten Prognosen und Prozessen ist verständlich, doch leider nicht realisierbar, noch nie realisierbar gewesen. Auch dann nicht, wenn digitalisierte Prozesse exakte Daten und Informationen liefern und analysieren. Auch wenn HR ausgestattet sein sollte mit größt-möglicher strategischer Einflussnahme, lassen sich Mitarbeitende, Teams, Bereiche und Unternehmen nicht nach kausalen Prinzipien steuern.

Aber was können Führung und Mitarbeitende von HR der anhaltenden Orientierungsunsicherheit in der Gegenwart entgegensetzen? Wir sind der festen Überzeugung: Die Anforderungen des maßgeblichen Kulturwandels sind alle schon mal gedacht worden. Für das Handeln ist auch fast alles bereits schon vorhanden.

  • Die Digitalisierungstechnologie und entsprechende Tools für HR sind zum Teil schon entwickelt. Sie zu implementieren, zu nutzen und weiterentwickeln, sind die Aufgaben.
  • Die Dezentralisierung von HR ist in Zeiten zunehmender Komplexität und geforderter Agilität sicher nutzbringender als jegliche Re-Zentralisierungstendenzen. Besonders dann, wenn Unternehmensbereiche, die eng am Markt arbeiten, unterschiedliche Dynamiken und damit unterschiedliche Bedarfe entwickeln. „Kopplung zwischen Peripherie und Zentrum muss entsprechend so gestaltet sein, dass es möglich ist, Marktdynamik aufzunehmen und zu gestalten“ (Pfläging, 2016 S. 24).
  • In der Gegenwart gibt es in Unternehmen oder Unternehmensbereichen ein sehr großes Bedürfnis nach Identität und Sinnhaftigkeit. Klare, attraktive Visionen, verbunden mit einer starken und positiven Unternehmenskultur können helfen, Konstanten zu setzten und Orientierung zu geben.
  • Reibungen und Konflikte an den Systemgrenzen von Unternehmensbereichen mit unterschiedlichen Arbeitslogiken waren immer schon vorhanden und sind bekanntlich unvermeidbar. Diese Schnittstellen brauchen seit jeher die Pflege einer besonders achtsamen und konsensualen Kommunikationskultur, um effektive Zusammenarbeit leisten zu können. Ständig in die Organisation hineinzuhören, ist dann sinnvoll, wenn mit den Akteuren der Peripherie gemeinsam Schlussfolgerungen gezogen werden, wie zu handeln ist, was es braucht. Es gilt sich der Zumutung zu stellen, den Austausch der Beobachtungen und die Entwicklung von Handlungsoptionen in Meetings zur Routine zu machen.
  • Beim Hineinhören in die Organisation sollte man sich primär dafür interessieren, „ob die Arbeit die Mitarbeiter beseelt und im Flow arbeiten lässt. (…) In einem von Missmut und Desinteresse geprägten Klima verstehen die Mitarbeiter inhaltlich das Ganze oder das Prinzip nicht, worauf es ankommt. Sie sollen nur quantitativ ihre Zahlen machen, aber das schaffen sie nicht, weil sie nicht wissen, was gute Arbeit bedeutet“ (Dueck, 2016 S. 21).
  • Es ist zu überlegen, was das Manifest für agile Softwareentwicklung mit der Arbeit im Personalbereich zu tun haben könnte:
    • Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:
      Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
      Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
      Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
      Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines PlansDas heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein. (Manifest für agile Softwareentwicklung, 2001)
  •  In diesem Sinn gilt Pragmatismus vor Prinzipientreue. In ebenfalls geregelter und regelmäßiger gemeinsamer Kommunikation wäre zu fragen: Was machen wir nächsten Monat genauso wie bisher, was machen wir – klugerweise- mal anders? „Geistige und emotionale Flexibilität und Wendigkeit werden immer wichtiger“ (Drath 2016, S. 420).
  • Unternehmensweit sind standardisierte Prozesse auf eben jene Flexibilität und Wendigkeit hin zu überprüfen. Wieviel Stabilität und Routinen brauchen wir? An welchen Stellen können wir uns auf Unterschiede einlassen? (relative Grundgehälter, relative variable Vergütung, Arbeitszeit- und Arbeitsplatzmodelle, sich selbst führende Teams etc.)
  • Es wäre für den Kulturwandel nützlich, die Führung von HR den neuen technologischen, vor allem aber sozialen und psychologischen Herausforderungen anzupassen.
  • Digital denken: Neue Digitaltechnologien vor dem Hintergrund der Frage, wie sich aus diesen größt möglicher Nutzen für das Unternehmen ziehen lässt, implementieren. Digitale Lösungswege gemeinsam mit unterschiedlichen Funktionsträgern anderer Unternehmensbereiche generieren.
  • Bescheiden sein: Sich als Moderator von Lösungsfindungen und Ideen zu verstehen, die von überall her, auch jenseits der Abteilungs- und Bereichsgrenzen, kommen können. Es ist besser nicht mehr wissen zu wollen als die Mitarbeitenden.
  • Handeln, statt lange zu planen: Unternehmen arbeiten zunehmend unter unsicheren, sich ständig ändernden Bedingungen. Lange Planungen sind obsolet. Arbeiten bedeutet für Führung „Ausprobieren, Experimentieren – und damit auch Scheitern, Lernen und Wieder-von-vorne-Anfangen“ (ManagerSeminare 2016, S.22). Die Entwicklung einer Fehlkultur, in der Fehler als Entwicklungschance begriffen werden.
  • Vertrauen in das Menschenbild der Theorie Y³, einer Theorie aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
  • Personalentwicklung, besonders bereits zentralisierte Führungskräfteentwicklungsprogramme, auf die aktuellen unterschiedlichen Bedarfe der Unternehmensbereiche ausrichten.
  • Workshops organisieren, in denen die Teilnehmenden Unterschiede im Unternehmen abbilden (unterschiedliche Funktionen, unterschiedliche Hierarchieebenen, weiblich, männlich, lange und kurze Betriebszugehörigkeit, Follower, Opposer etc.) in denen es ermöglicht wird, über das bisher Gemachte hinauszudenken.
  • Benchmarking betreiben, aus dem Unternehmen heraustreten und erkunden, wie andere aktuelle Herausforderungen meistern.
  • Und nicht zuletzt: Beweglich sein und (Mit)Gestaltungswillen zeigen und handeln trotz oder gerade wegen der schon lang währenden Orientierungsunsicherheit von HR.

Statt „Rethinking HR“ würde es vielleicht nützlich sein, eine klare Vision zu vereinbaren. Eine wirklich konkrete Vorstellung wie „In zehn Jahren landen wir auf dem Mond!“ (John F. Kennedy) Die klare Ausformulierung eines konkret angestrebten Zustands bewirkt, dass sich alle Energie von HR auf die Erreichung dieses ersehnten Zustands ausrichten kann. Die Konzentration des Handelns wird so auf das formulierte Ziel und nicht auf den Weg bzw. auf unterschiedliche Entwicklungspfade gerichtet. Wie könnte so ein Ziel lauten? Wir lehnen uns im ersten Schritt zur Zielformulierung gern einer Vision von Gunter Dueck an. Wie wäre es, wenn HR das Ziel hätte, sich selbst und die Führung in den Unternehmen zu befähigen, die „Mitarbeiter wie Freiwillige zu führen und zu First-Class-Leistungen bringen. (…) Freiwillige kommen aus freien Stücken, um etwas zu bewegen. (…) Sie setzen sich hohe Ziele, sind aber nicht gezwungen, sie zu erreichen. Sie wollen nicht unter Druck und Hast arbeiten, Sie nehmen sich Zeit. Das Ergebnis ihrer Arbeit soll sie befriedigen, ihre freiwillige Arbeit soll ihnen Freude bereiten. (…) Es ist eine große Kunst, Freiwillige so für ein Ziel zu erwärmen, dass sie wirklich für First-Class-Qualität brennen und auch nicht so schwankende Arbeitszeiten haben“ (Dueck, 2015 S. 321 f.).

In diesem visionären Sinn:  Let’s go!


1Für die Studie „Rethinking HR – Transforming Organization an People“ haben der Bundesverband der Personalmanager (BPM), die Beratungen Egon Zehnder und Boston Consulting Group (BCG) sowie die Quadriga Hochschule Berlin qualitative Interviews mit mehr als 40 Vorständen aus allen Funktionsbereichen sowie Personalchefs und Gewerkschaftern geführt. Darüber hinaus haben die Studienautoren über 1300 Personalmanager, von denen rund die Hälfte im BPM organisiert ist, zu ihrer gegenwärtigen Personalarbeit und zukünftigen Handlungsempfehlungen befragt.

https://www.quadriga-hochschule.com/aktuelles/forschungsprojekt-rethinking-hr-beschleunigte-arbeitswelt-setzt-personalmanager-unter

2VUKA ist ein Akronym, mit dem verschiedene Facetten der Unübersichtlichkeit der modernen Arbeitswelt umrissen werden: Die moderne Welt ist…

  • Volatil: Manche Entwicklungen unterliegen starken Schwankungen, sind wechselhaft
  • Unsicher: Wir verfügen nie über alle und selten über alle wesentlichen Informationen, um Situationen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen.
  • Komplex: Wir haben es mit einer immer weiter steigenden Zahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu tun.
  • Ambivalent: Was heute richtig war, kann morgen falsch und übermorgen wieder richtig oder völlig irrelevant sein – Vieldeutigkeit ist das Thema.

(Vgl. Lemoine, 2015)

3Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte Douglas MCGregor auf den Unterschied zweier Menschenbilder aufmerksam. Theorie X: Menschen arbeiten nur unter Druck, müssen angeleitet werden, suchen Pausen und Ablenkung – müssen von selbstmotivierten Managern geführt und kontrolliert werden Theorie Y: Menschen arbeiten gern, wollen wirksam sein, sich entwickeln. Manger unterstützen dabei (Empowerment, Coaching) und sind Vorbilder. (in Anlehnung an: Industrie 4.0 digitale Revolution eindrucksvoll erklärt – Gunter Dueck 2016)


Literatur

Bahnmüller Reinhard, Fisecker Christiane: Dezentralisierung, Vermarktlichung und Shareholderorientierung im Personalwesen. Ein Literaturbericht des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur e.V. an der Universität Tübingen 2003

BartscherThomas: Personalarbeit im Wandel. In: ProFirma 12, 2008 S.92-94

Dueck Gunter: Schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam. Frankfurt 2015

Endres Helene, Kestel Christina: HR neu denken. In: Harvard Business Manager. Juli 2017 S. 8-10

Kiefer Andreas, Wullenkord Axel: Erfolgreiche Personalarbeit in Zeiten von Industrie 4.0. ADP Sonderdruck 2015G

Lemoine Jim, Eppler Martin J., Angemessen antworten, in: OrganisationsEntwicklung 4/2015, Seite 4-6

Lipkowski Sylvia: Leadership 4.0. Führen in der digitalen Welt. In: ManagerSeminare, September 2016 S. 18-24

Manifest für agile Softwareentwicklung. 2001 http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html

Pfläging Niels, Hermann Silke: Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Blebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität. München 2016

Sames Gerrit: Industrie 4.0 und Digitalisierung – Was ändert sich für den Mittelstand? Vortrag auf dem 1. Kooperationsforum Waldeck Frankenberg. November 2016

Stärkung im Wandel der Führungskultur – Horizontale Organisationsstrukturen versus vertikale Führung

Verlagert sich die Organisationsstruktur in einem Unternehmen hin zu horizontalen Ausrichtungen der Kunden- oder Prozessorientierung, bedingt diese Verlagerung eine gleichzeitige Mitentwicklung der Führungsstruktur. Diese Bedingtheit, wird häufig unterschätzt, was meist zu Reibungen und Dilemmata im Unternehmen oder in Unternehmensbereichen führt.

Aber was bedeutet das: Der Wandel der Organisationsstruktur fordert einen Wandel der Führungsstruktur? Die wertschöpfenden Unternehmensbereiche haben eine Grenze zum Außen des Unternehmens, direkt zum Markt und zu den Kunden. Dort an der Peripherie sind Veränderungs- und Beschleunigungsimpulse, die von außen in die Arbeitswelt hineingesendet werden, besonders spürbar. Industrie 4.0 fordert Tribut. Der Markt, die Mitbewerber, Qualitätsansprüche und Kundenbedürfnisse differenzieren sich zunehmend aus, das Kundenverhalten verändert sich radikal, Märkte werden global umgewälzt, die Digitalisierungstechnologie hält rasanter Geschwindigkeit Einzug in die Unternehmen.  Dienstleistungen und Service werden bis 2020 einen höheren Umsatzanteil ausmachen, der Druck auf die Margen im reinen Produktgeschäft wird steigen, wir werden „Operational Excellence durch digital veredelte Wertschöpfungsprozesse“ erfahren (Sames, 2016). Viele Unternehmensbereiche an der Peripherie sind schon längst von der VUKA Welt[1] in Empfang genommen worden und agieren bereits mit der erforderlichen Agilität. Es entsteht nun eine besondere Dynamik, wenn die vertikale Führung einer hierarchisch – funktional gegliederten Organisation auf eine horizontale, nämlich verstärkt kunden- oder prozessorientierte Ausrichtung der Organisationsstruktur trifft.

In Unternehmen oder Unternehmensbereichen fordert diese Dynamik, zunehmend selbstständiges und eigenverantwortliches Entscheiden und Arbeiten der Mitarbeitenden. “Empowerment“ ist eins der Zauberwörter. Täglich zu treffende Entscheidungen verlagern sich in Unternehmen zunehmend von oben nach unten.

Ich bediene mich eines Bildes der klassischen Hierarchie. Das Konzept/Modell des obersten Chefs als König, der seinen Bereich regiert mit Hilfe seiner Fürsten, den Bereichs- oder Abteilungsleitern, die ihrerseits ihre Fürstentümer mit Ministerialen regieren, hat schon längst ausgedient. Die Aufgabe der formellen Führungsstruktur in modernen Unternehmen „ist die Sicherung von Gesetzmäßigkeit oder „Compliance“ für die Organisation: die Ausfüllung des gesetzlich vorgesehenen Gestaltungsraums. Verträge gehören dazu. Buchhaltung und Rechnungslegung. Formelle Funktionszuordnung wie Geschäftsführung, Prokura, Betriebsrat, Aufsichtsrat oder Datenschutzbeauftragter. Dies ist die existenzielle Aufgabe formeller Struktur im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit. … Das war’s“ (Pfläging, 2016).

So radikal ist der Kulturwandel vielleicht nicht. Jedoch scheint das vertikal ausgerichtete hierarchische Führungsmodell nicht länger in der Lage zu sein, der zunehmenden Komplexität und den damit  verbundenen potentiellen Reibungsflächen in Organisationen erfolgsversprechend begegnen zu können. Die Anforderungen der VUKA Welt strahlen aus dem Außen in die Unternehmen hinein, spiegeln sich dort und erzeugen noch mehr Komplexität durch unterschiedlich beschleunigte Dynamiken.

Die Chefin, die Bereichsleiter, die Abteilungsleiterin sind die bisher unmittelbar ansprechbaren Personen, die die Mitarbeitenden als auch die Führungskräfte auf der mittleren Führungsebene, in der hierarchischen Struktur erleben und gewohnt sind. Diese Struktur erfordert zwei zentrale Ausrichtungen. Einerseits die von oben nach unten in den eigenen Verantwortungsbereich hinein, andererseits die von unten nach oben zu den nächst höheren Führungskräften.

In der Wahrnehmung der Mitarbeitenden ist oben die „Weisheit“ (welche durchaus auch mal von unten in Frage gestellt wird und gestellt werden muss), ist oben die Entscheidungsbefugnis, ist oben die Verantwortung, und im Zweifelsfall ist oben auch die Schuld zu suchen, wenn ein Vorhaben, ein Prozess misslingt. Also ab nach oben mit der Verantwortung, den Problemen, den Entscheidungsfragen und hinunter mit den Problemlösungen und den Umsetzungen der getroffenen Entscheidungen. Diese Verhaltensdynamik in der Hierarchie hat für Mitarbeitende durchaus etwas Entlastendes.

Gleichzeitig entstehen durch die zunehmend horizontalen Ausrichtungen an die sich immer weiter ausdifferenzierenden Bedarfe des Marktes, der Kunden als auch der sich beschleunigenden Prozesse Bedingungen, die eine interessante und herausfordernde Dynamik inszenieren.

Please the customer, don’t please the boss!

Nun wird die Sache verwirrend, wenn Führung ihre Insignien der Macht ablegt und verkündet:

„Wir sind nicht länger die allumfassende Entscheidungsinstanz. Setzt – auf allen Ebenen der Organisation –  all euer Wissen, eure Erfahrungen, eure Kompetenzen, euer Können ein. Übernehmt Verantwortung und werdet selbstständig.“ Spannend daran ist:

Schulungen oder Seminaren erlangen zu wollen, reicht in der Gegenwart nicht aus, so erfahre ich es seit Jahren in meiner Arbeit als Organisations- und Führungskräfteentwicklerin.

Der Wandel von einer vertikalen Führungsstruktur hin zu einer horizontalen Ausrichtung erfordert einen hohen Aufwand an Klärung von Unsicherheiten und Missverständnissen. Damit diese konstruktiv bewältigt werden können, bedarf es sehr wohl einer „Setzung“, die gemeinsam erarbeitet und vereinbart werden sollte. Die Menschen brauchen Leitplanken, innerhalb derer sie sich selbstständig bewegen können. Starke, tragende Visionen, Ziele im Sinne angestrebter Zustände, gemeinsam vereinbarte Werte und Haltungen geben dem täglichen Tun Orientierung.

Die Stärkung im Wandel der Führungskultur erfordert von den Führungskräften als auch von Mitarbeitenden

  • sich selbst führen können – Selbstreflexion und Selbsterkenntnis sind unerlässlich
  • ein vertieftes Verständnis vom Umfeld der Organisation
  • Vertrauen in das Menschenbild der Theorie Y[2]
  • Durchhaltevermögen
  • wahrgenommene Widersprüche in der Organisation mit Führungskräften und Mitarbeitenden klären, um eine gemeinsame Einschätzung von Dringlichkeit und Wichtigkeit zu entwickeln
  • kluges taktisches Abwägen der Unterschiede, auf der Basis übergeordneter Ziele
  • Kompromisse nicht als 50:50 Lösungen verstehen, sondern das Finden eines dritten Weges im Rahmen eines Konsensprozesses (Siehe Die Redmont Paradoxie-Studie: „ALLES IST Paradox – Also wird alles gut.“ 2017).
  • Empathie – Ein Team wird umso besser, je höher die Fähigkeit der Empathie der einzelnen Mitglieder und nicht je höher die fachliche Kompetenz ist (Kast, 2015).
  • eine von allen als sinnvoll erachtete und gelebte Kommunikationskultur – Es braucht dringend Formate und Orte, an denen sich alle Beteiligten sicher sein können, dort schwierige Themen besprechen und Lösungen erarbeiten zu können. Es braucht Formate und Orte in denen tatsächlich kommuniziert (zugehört, gefragt, kritisiert, anerkannt, rückgespiegelt, argumentiert) wird. In diesen Formaten sollten neue Formen der Kooperation und Führung selbst zum Themen werden, gleichgestellt mit anderen relevanten fachlichen, wirtschaftlichen oder strategischen Inhalten
  • Verlässlichkeit – heißt in Kontakt sein und bleiben und das in Kontaktsein ist es, was uns in einervolatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Welt Verlässlichkeit geben kann.
  • Und immer wieder: Bescheidenheit. Sich als Moderator von Lösungsfindungen und Ideen zu verstehen, die von überall her, auch jenseits der Abteilungs- und Bereichsgrenzen, kommen können. Es ist besser nicht mehr wissen zu wollen als die Mitarbeitenden (ManagerSeminare, 2016).

1VUKA ist ein Akronym, mit dem verschiedene Facetten der Unübersichtlichkeit der modernen Arbeitswelt umrissen werden: Die moderne Welt ist…

  • Volatil: Manche Entwicklungen unterliegen starken Schwankungen, sind wechselhaft
  • Unsicher: Wir verfügen nie über alle und selten über alle wesentlichen Informationen, um Situationen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen.
  • Komplex: Wir haben es mit einer immer weiter steigenden Zahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu tun.
  • Ambivalent: Was heute richtig war, kann morgen falsch und übermorgen wieder richtig oder völlig irrelevant sein – Vieldeutigkeit ist das Thema.

(Vgl. Lemoine, 2015)

2Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte Douglas MCGregor auf den Unterschied zweier Menschenbilder aufmerksam. Theorie X: Menschen arbeiten nur unter Druck, müssen angeleitet werden, suchen Pausen und Ablenkung – müssen von selbstmotivierten Managern geführt und kontrolliert werden Theorie Y: Menschen arbeiten gern, wollen wirksam sein, sich entwickeln. Manger unterstützen dabei (Empowerment, Coaching) und sind Vorbilder. (in Anlehnung an: Industrie 4.0 digitale Revolution eindrucksvoll erklärt – Gunter Dueck 2016)


Literatur

Die Redmont Paradoxie-Studie: „ALLES IST Paradox – Also wird alles gut.“ 2017

Dueck Gunter: Industrie 4.0 digitale Revolution eindrucksvoll erklärt – www.youtube.com/watch?v=7Kv45BUNGyg 2016

Erpenbeck Mechtild: Wirksam werden im Kontakt. Heidelberg 2017

Kast Bus: Und plötzlich macht es Klick! Das Handwerk der Kreativität oder wie gute Ideen in den Kopf kommen. Frankfurt a.M. 2015

Laloux Frederic: Reinventing Organisations. München 2017

Lemoine Jim, Eppler Martin J., Angemessen antworten, in: OrganisationsEntwicklung 4/2015, Seite 4-6

Lipkowski Sylvia: Leadership 4.0. Führen in der digitalen Welt. In: ManagerSeminare, September 2016 S. 18-24

Pfläging Niels, Hermann Silke: Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Blebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität. München 2016

Sames Gerrit: Industrie 4.0 und Digitalisierung – Was ändert sich für den Mittelstand? Vortrag auf dem 1. Kooperationsforum Waldeck Frankenberg. November 2016

Das ‚Mehr‘ eines Beziehungskonflikts in einem Unternehmen – Ein Plädoyer für den ganzheitlich-systemischen Klärungsansatz

Die Ausgangssituation

Wir wurden von dem Personalleiter eines weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmens mit über 2000 Mitarbeitern gerufen, um einen Konflikt zwischen zwei Abteilungsleitern eines Geschäftsbereichs einer Klärung zuzuführen. Die Abteilungsleiter lehnten einander persönlich zunehmend ab, was die Konfliktdynamik auf der inhaltlichen, als auch auf der Beziehungsebene beschleunigte. In Folge dieser Konfliktsituation war eine Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen nur noch schwer möglich. Aufgrund der gravierenden Kommunikations- und Beziehungsstörungen konnten aktuelle Projekte nicht ohne größere Schwierigkeiten abgeschlossen werden, war die Akzeptanz von Veränderungsnotwendigkeiten ausgesprochen gering,  war die Erarbeitung einer zukünftigen strategischen Ausrichtung an den Schnittstellen zwischen den Abteilungen nicht möglich. Die Mitarbeiterdenden beider Abteilungen fühlten sich unwohl angesichts der zunehmenden Eskalation. Sie litten unter der unausgesprochenen Prämisse beider Abteilungsleiter: „Bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich.“ Der Konflikt hatte also mittlerweile erhebliche negative Auswirkungen auf die Zusammenarbeit im Unternehmen. Was noch gravierender war: auch im Außen war die problematische Situation wirkmächtig worden. Kunden reagierten bereits auf das angespannte Verhältnis der Abteilungsleiter und dessen Folgen. Mehrfache Versuche von Mitarbeitern der Personal- und Rechtsabteilung, den Konflikt zu schlichten, waren bisher erfolglos geblieben.

Diagnose der Situation

In Gesprächen mit den Verantwortlichen der Personalentwicklung, dem Geschäftsführer als auch den beiden Abteilungsleitern kamen wir überein, nicht die Problematik und Entwicklung der beiden im Konflikt involvierten Abteilungsleiter isoliert zu betrachten, sondern auch die jeweiligen Abteilungen mit ihren spezifischen Arbeitslogiken und besonders die Führungs- und Unternehmenskultur mit in den Fokus zu nehmen. Wir planten eine kleine Organisationsdiagnose und wählten den Einsatz folgender Werkzeuge:

  1. Entwicklung eines Interviewleitfadens
  2. Durchführung von halbstandardisierten Interviews
  3. Auswertung der Interviews
  4. Rückspiegelung der Interviewergebnisse

Die Architektur der Diagnose

Empirische Grundlagen schaffen

Wir entwickelten einen Interviewleitfaden und führten 32 halbstandardisierte Interviews durch. Die InterviewpartnerInnen wurden durch Mitarbeitenden der Personalentwicklung nach unterschiedlichen Kriterien mit der Prämisse ausgewählt, möglichst viele Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Alter, Funktion im Unternehmen, Betriebszugehörigkeit, Aufgaben, Personalverantwortung etc. abzubilden, um relevante Aussagen eines stellvertretenden Querschnitts aus den Abteilungen zu erhalten. Die Interviews wurden aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert. Bei der Datenauswertung handelte es sich um qualitative Forschungsarbeit. Die zum Einsatz kommenden Techniken entsprachen den in der empirischen Sozialforschung generell üblichen Methoden (Vgl. Rosenstiehl 2005). Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten von innen heraus, aus der Sicht von handelnden Menschen, zu beschreiben. Damit will dieser Forschungsansatz zum besseren Verständnis sozialer Wirklichkeiten beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen (Vgl. Flick 2005).

Am Ende der Erhebungsphase und Datenauswertung, die in mehreren Schleifen erfolgte, fassten wir unsere Diagnose in Hypothesen zusammen. Sie dienten als Grundlage und waren richtungsgebend für das weitere Vorgehen.

Hypothesen

  1. Beide Abteilungen verfügen über vielfältige Kompetenzressourcen, die dem Unternehmen sehr nutzbringend sein könnten.
  2. Die Arbeitslogik zwischen den Abteilungen ist unterschiedlich. A hat und braucht für die sich stellenden Aufgaben und Herausforderungen einen eher weiten Blick, denkt und handelt im Rahmen eines Makromanagements. B hingegen hat und braucht den Blick des Mikromanagements. Das Schaffen von Synergieeffekten zwischen beiden ist noch nicht gelungen.
  3. „Arbeit“ wird von den Akteuren der einzelnen Abteilungen unterschiedlich definiert und schwarz-weiß positioniert: … Die fliegen in der Weltgeschichte rum, und wer weiß, was die da machen …  Die stehen nur in Ihren Werkshallen und haben keine Ahnung von der Welt und den Besonderheiten der Märkte.
  4. Synergieeffekte können entstehen, wenn die unterschiedlichen Arbeitslogiken in einem permanenten Prozess ausbalanciert werden. Dazu wäre es brauchbar, Verantwortlichkeiten, Ziele, Aufgaben der Abteilungen an den Schnittstellen zu definieren, zu kommunizieren und einer gegenseitigen Akzeptanz zuzuführen. Dies ist gegenwärtig nicht umfassend gegeben. Die Folgen sind dysfunktional für die Zusammenarbeit der betroffenen Abteilungen im Geschäftsbereich.
  5. Auf die bereits vom Unternehmen definierten und kommunizierten Führungsleitlinien und Unternehmenswerte greifen die Führungskräfte nicht zurück.
  6. Die entstandene Konfliktdynamik zwischen den Abteilungsleitern hat ihren Ursprung in der unterschiedlichen Systemlogik der Abteilungen. Die daraus entstehenden unvermeidbaren Widersprüche und Unterschiede wurden personifiziert, so dass sich ein Beziehungskonflikt entwickelte.
  7. Zur Konfliktanalyse ist es nicht brauchbar, nur auf die handelnden Personen zu schauen, sondern die Organisationsarchitektur und –dynamik ist mit in den Fokus zu nehmen. Ist Abteilung A als „Stabsabteilung“ mit direkter Zuordnung an die Geschäftsführung sinnvoll in die Organisation integriert?
  8. Der Konflikt hat allerdings schon eine relativ hohe Eskalationsstufe erreicht. Zur Wiederherstellung und Sicherung einer tragfähigen und nachhaltigen Zusammenarbeit wird eine Mediation zwischen den Konfliktparteien notwendig sein.
  9. Um die dysfunktionalen Dynamiken im Inneren zu beenden als auch möglichen Schaden in der Außenwirkung des Unternehmens abzuwenden, ist ein zeitnahes Handeln erforderlich.
  10. Ebenso sind Zukunfts- und Zielorientierung im weiteren Vorgehen bauchbarer als Rückwärts- bzw. Vergangenheitsgewandtheit.

Rückspiegelung der Interviewergebnisse

In einem Tagesworkshop wurden Schlüsselpersonen die Hypothesen rückgespiegelt. Die Funktionen dieses Workshops waren:

  • Herstellen von Anschlussfähigkeit
  • Vertiefung der Vertrauensbeziehung
  • Schaffung einer Basis für eine gemeinsame Entscheidung über das weitere Vorgehen im Prozess.

Neue Aufgabenstellungen und Interventionen

Den Hypothesen wurde von den am Workshop Teilnehmenden als treffende Beschreibung der gegenwärtigen Situation zugestimmt. Die zukünftigen Interventionen sollten dem Widerspruch Rechnung tragen, dass es einerseits um die Klärung eines Beziehungskonflikts gehen musste und gleichzeitig die strukturellen Ursachen des Konflikts mit erweitertem Blick auf die Organisation als auch auf die betreffenden Organisationseinheiten im Vordergrund standen. In einem weiteren Workshop entschieden sich die Teilnehmenden deshalb vorerst für die Bearbeitung folgender Themen

  • Anschlussfähigkeit in der Organisationsstruktur und an die Unternehmenskultur
  • Klärung des aktuellen Konflikts zur nachhaltigen Wiederherstellung und Aufrechterhaltung konstruktiver Zusammenarbeit der Abteilungsleiter
  • Klärung der Verantwortlichkeiten, Ziele und Aufgaben an den Schnittstellen der Abteilungen
  • Regelung der Kommunikation und des Informationsflusses an den Schnittstellen
  • Arbeit an der Führungskultur

Anschlussfähigkeit in der Organisationsstruktur und an die Unternehmenskultur

Die Abteilung A war  nicht hinreichend in die Kultur des Unternehmens eingebunden. Sie war erst vor knapp zwei Jahren organisiert  und als „Stabsabteilung“ direkt der Geschäftsführung zugeteilt worden, in der Organisationsstruktur also nicht auf einer Organisationsebene mit Abteilung B angeordnet, was  vom Geschäftsprozess her gesehen, sinnvoll gewesen wäre. Das führte von vornherein zu Unstimmigkeiten und Störungen im Workflow. Die Geschäftsführung wie auch Abteilungsleiter richteten zudem ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Unterschiedlichkeit der Kulturen und Arbeitslogik in den jeweiligen Abteilungen. So entwickelte sich ein zunehmendes Unverständnis zwischen der eher mikroökonomisch angelegten Arbeitskultur der einen und der makroökonomischen, interkulturellen Ausrichtung der anderen Abteilung. Die nicht ausbalancierten Unterschiede beschleunigten unvermeidbaren Konflikt[1]zwischen den Abteilungen. Es konnte nicht um eine Angleichung, sondern es musste um Transparenz, Erkenntnis, Verstehen, die Akzeptanz und das Managen von Unterschieden gehen. Zudem wurden die allgemeinen Unternehmenswerte, Ausrichtungen und die Identität des Gesamtunternehmens unterschiedlich interpretiert und gelebt.

Zur effektiven Verortung in der Unternehmensstruktur mit dem Ziel, Synergieeffekte zu schaffen, die zum Bestehen und der Weiterentwicklung des Unternehmens auf dem globalen Markt beitragen können, wurde ein „interdisziplinäres“ Projektteam zusammengestellt. Es setzte sich u.a. aus MitarbeiterInnen der Personalentwicklung, den Leitern, einigen Mitarbeitenden   der betreffenden Abteilungen, MarketingmitarbeiterInnen sowie einem externen Organisationsberater zusammen und machte es sich zur Aufgabe, ein entsprechendes Konzept zu entwickeln.

Konfliktmediation

Die rasante Konfliktdynamik zwischen den Leitern der betreffenden Abteilungen  wurde „genährt“ durch die Entstehung von einem vermeidbaren Beziehungskonflikt.²

Das Mediationsverfahren³ zwischen den beiden Konfliktparteien hatte eine nachhaltige Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der konstruktiven Zusammenarbeit zum Ziel.Effektive Zusammenarbeit setzt Kooperation voraus. (Vgl. Dulabaum 2003, S. 193) Diese war zwischen den Streitenden zu Beginn der Mediation nicht gegeben. Die Abteilungsleiter waren emotional aufgebracht und befanden sich nach unserer Einschätzung auf dem Eskalationsniveau nach Glasl zwischen Stufe drei „Taten statt Worte“ und der Stufe vier „Images und Koalitionen“. Hauptmerkmale des Konflikts waren:

  • Durchdrücken der eigenen Ideen und Positionen gegen den Willen der anderen Partei.
  • Persönliche Aggressionen und Verletzungen werden unverhüllt gezeigt.
  • In den eigenen Reihen wird Meinungsanpassung gefordert.
  • Das Einfühlungsvermögen für die Befindlichkeit der Gegenpartei ist drastisch geschwunden.
  • Zusätzlich zu Aktionen des Durchdrückens  werden Imagekampagnen offen geführt.
  • Offenes Sticheln und Ärgern führt zu neuen Enttäuschungen und schüren das Misstrauen (Vgl. Glasl 2004, S. 302 f.).

Durch das Verfahren der Mediation, in der das Lebendige aus der Vergangenheit geholt wird, im „Hier und Jetzt“ bearbeitet wird und auf eine Übereinkunft in der Zukunft zielt (Vgl. Dulabaum 2003,S. 193), konnte in nur zwei Sitzungen der Wille zur zukünftigen Zusammenarbeit und gegenseitigen Kooperationsbereitschaft wieder hergestellt werden. Die Konfliktparteien vereinbarten, zukünftig – wann immer möglich –  persönlich miteinander ins Gespräch zu kommen und nur noch dann per Mail miteinander zu kommunizieren, wenn der persönliche oder telefonische Kontakt nicht möglich ist. Zudem vereinbarten sie, zukünftig bei Meinungsverschiedenheiten miteinander und nicht übereinander zu reden. Zur Einbindung und zum Verstehen der unterschiedlichen Arbeitslogiken und Bereichskulturen wurde im Sinne einer Job Rotation beschlossen, dass Mitarbeiter in Schlüsselfunktionen für einen Zeitraum von jeweils zwei Wochen in der jeweils anderen Abteilung hospitieren.

Klärung der Verantwortlichkeiten, Erarbeitung der Ziele und Aufgaben an den Schnittstellen der betreffenden Abteilungen

Definition und Hintergrundmodell

Der nächste Schritt im Entwicklungsprozess betraf die Klärung der Schnittstellen zwischen den Abteilungen. Schnittstellen in Unternehmen sind durch Arbeitsteilung entstandene Transferpunkte zwischen Funktionsbereichen, Projekten, Personen, Unternehmen etc. Schnittstellen ergeben sich dann, wenn komplexe Aufgaben innerhalb oder zwischen Organisationen in Teilaufgaben zerlegt und auf Grund von Ähnlichkeitsaspekten relativ autonomen organisatorischen Einheiten (z.B. Abteilungen, Unternehmensbereichen) zugeordnet werden. Die Aufgabe des Schnittstellenmanagement ist es, Schnittstellen unter Effektivitäts- und Effizienzaspekten zu analysieren, zu planen, zu gestalten und zu managen. Sofern eine Integration möglich ist, sollen sachlich unnötige Schnittstellen zusammengefügt werden. Ist dieses nicht möglich, so ist es die Aufgabe des Schnittstellenmanagements, die Aktivitäten bestmöglich zu koordinieren. (In Anlehnung an: http://update.hanser-fachbuch.de/2014/10/schnittstellenmanagement-in-agilen-unternehmen/)

Als theoretisches Hintergrundmodell verwandten wir das Modell von Dieter Rösner

http://update.hanser fachbuch.de/2014/10/schnittstellenmanagement-in-agilen-unternehmen/

Im Vorfeld eines Workshops, an dem der Geschäftsführer, die Leiter der Abteilungen und ein Mitarbeiter der Personalentwicklung teilnahmen, wurden die Teilnehmenden gebeten, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, auf die wir im Hintergrundmodell den Fokus gelegt hatten:

Gemeinsame Ziele

  • Welches bereichsübergreifende Ziel wird im Sinne der Unternehmensphilosophie als Basis gemeinsamer Haltungen und Werte zugrunde gelegt? 

Strukturen, Aufgaben, Prozesse

  • Welche Aufgabenstrukturen leiten sich aus den Zielen ab?
  • lst eine Prozessdefinition der Aufgabenstruktur brauchbar? Wenn ja, wie sollte der Ablauf definiert sein?
  • Welche Entscheidungskompetenzen werden festgelegt?

Transparente Information

  • Welche Informationswege werden definiert?
  • Sind die bereits bestehenden Dokumentationswege ausreichend beschrieben? Wenn nein, wie sollten diese gestaltet sein?

Kommunikation

  • Wie kann eine sinnvolle Regelkommunikation zu den einzelnen Abteilungen und mit allen relevanten Geschäftsbereichen gemeinsam organisiert werden?
  • Wie werden die jeweilige Agenda und Moderation festgelegt?
  • Welcher Kommunikationsrahmen wird für einen konstruktiven Umgang mit Unstimmigkeiten und Konflikten konstruiert? 

Die Arbeitsergebnisse aus dem Workshop wurden allen Mitarbeitern der Abteilungen als auch den Mitgliedern der oberen Führungsebene des Unternehmens vorgestellt und mit ihnen abgestimmt. Maßnahmen für den Transfer in den Arbeitsalltag wurden zeitnah realisiert.

Führung

Da das Unternehmen bereits Führungsleitlinien entwickelt hatte, wurden diese in einer Großgruppenveranstaltung mit den Führungskräften aller Führungsebenen des Unternehmens erneut diskutiert und auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüft. Als Ergebnis kristallisierte sich heraus, dass die Führungsleitlinien zwar in Zusammenarbeit mit einer renommierten Marketingagentur entwickelt und im Unternehmen veröffentlicht worden waren, von den Führungskräften allerdings durch ihr Handeln und Entscheiden keines Falls zu einem lebendigen Teil der Führungskultur gemacht worden waren.

Eine Leitbildentwicklung kann nicht als einmalige Angelegenheit betrachtet werden. Leider, so schien es, ist dies im Unternehmen passiert. Die Personalentwicklung konzipierte eine Veranstaltungsreihe für die Bereichsleiter und die Führungskräfte der mittleren Ebene mit den Zielen:

  • die richtungsweisende Funktion von Führungsleitsätze zu überarbeiten,
  • die bereits bestehenden Leitlinien auf ihre Brauchbarkeit und Realisierbarkeit hin zu überprüfen und gegebenen falls zu verändern bzw. zu ergänzen,
  • Möglichkeiten des Transfers der Leitlinien in die tägliche Führungspraxis zu erarbeiten,
  • die Orientierung und Weiterentwicklung  an den Leitlinien als fortlaufenden Prozess zu verstehen in dem es weitere Schritte zu vereinbaren gilt.

Zudem wurde ein Pool von Coaches eingerichtet, auf den die Führungskräfte bei Bedarf zur Begleitung ihres persönlichen Praxistransfers zurückgreifen konnten.

Fazit

Unternehmen sind Organisationen und damit mehr als nur ein Zusammenwirken einzelner funktionaler Abteilungen, bzw. Geschäftsbereiche. Da das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile (Aristoteles), sind auch Organisationen komplexe soziale Systeme und als solche zu verstehen.

Als theoretisches Hintergrundmodell eignet sich das Organisationsverständnis der Systemtheorie. Die beschriebenen Abteilungen sind demnach zwei unterschiedliche und gleichzeitig autopoietische Systeme, die sich durch ein geschlossenes „Innen“ und ein „Außen“, den sogenannten relevanten Umwelten (Markt, Kunden, Wettbewerber, gesetzliche Grundlagen, Mitarbeiter etc.) auszeichnen. Ereignen sich in den relevanten Umwelten Veränderungen, so können diese Einfluss auf das „Innen“ haben. Die relevanten Umwelten der beiden Abteilungen sind zum Teil unterschiedlich, dementsprechend sind beide Systeme unterschiedlichen Veränderungsimpulsen durch ihre jeweiligen Umwelten ausgesetzt, sie haben eine unterschiedliche Arbeitslogik, und aufgrund ihrer Strukturdeterminiertheit reagieren sie auch unterschiedlich auf Veränderungen in ihrem „Außen“. Dies bringt an den Systemgrenzen bzw. Schnittstellen zwischen den Abteilungen unvermeidbare Widersprüche und Unterschiede mit sich. Die Geschäftsbereiche und Abteilungen eines Unternehmens als soziale Systeme sind in sich geschlossen, entwickeln in der Abgrenzung zu anderen Bereichen und Abteilungen eine eigene Identität. Damit wird das Eigene vertrauter, die anderen fremder. Eine dichte Geschlossenheit nach innen kann jedoch in den Abteilungen auch zu einer abgedichteten Geschlossenheit nach außen führen. Der innere Zusammenhalt gewinnt dann an Bedeutung. Die Folge ist ein starkes WIR Gefühl versus DIE anderen. Es kann dann passieren, wie real auch geschehen, dass Informationen von außen nicht bzw. verzerrt wahrgenommen oder uminterpretiert werden. Der Appell „ Wir arbeiten doch unter einem Dach unseres Unternehmens, wir haben gemeinsame Ziele, wir haben  Unternehmenswerte und Führungsleitlinien definiert, haltet euch daran!“  wirkt angesichts dieser systemimmanenten Logik nicht. Um solchen dysfunktionalen Entwicklungsprozessen in Unternehmen entgegenzuwirken, ist es zielführend ,  nicht nur auf das WIR  Gefühl und die Entwicklungen der Identität eines jeweiligen Teams bzw. einer Abteilung zu achten, sondern auch die Balance von Geschlossenheit und Offenheit einzelner Unternehmensbereiche mit in den Fokus von Entwicklungs- und Changemaßnahmen zu rücken (Lackner 2006).

Ebenso sinnvoll ist es, in Konfliktsituationen nicht nur auf die Personen als Protagonisten im Konfliktgeschehen zu schauen, sondern die gesamte Organisationsstruktur und –dynamik zu analysieren.  Denn häufig personifizieren sich die unvermeidbaren Unterschiede zwischen den Systemeinheiten einer Organisation als Beziehungskonflikte zwischen Personen. Wird versucht, den Konflikt nur zwischen den Funktionsträgern zu klären, wird der Erfolg nicht nachhaltig sein. Es gilt das ‚Mehr‘ des Beziehungskonflikts zu erkunden und einer Lösung zu- zuführen. Besonders an den Schnittstellen zwischen Bereichen mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Arbeitslogiken müssen Personal- und Organisationsentwicklungskonzepte der Komplexität und den unvermeidbar entstehenden Widersprüchlichkeiten und Dynamiken Rechnung tragen können.

Im Konfliktfall empfehlen wir deshalb:

– erstes den Blick auf die Organisationsstrukturen und die Organisationsdynamik zurichten.

– dann  die Interaktionsdynamik zwischen den funktionalen Systemen in der Organisation in den Fokus zu nehmen.

– und GLEICHZEITIG mit den Personen, die den Konflikt austragen, zu arbeiten. Unsere Erfahrung zeigt immer wieder, dass, wenn in den Strukturen und der daraus entstehenden Dynamik und Interaktionsmustern Klärung, Verständnis für die Komplexität und Toleranz für Unterschiede geschaffen wurde,  sich die Beziehungskonflikte leicht und nachhaltig auflösen.

Ein vereinfachtes Organisationsverständnis kann dazu führen, dass auch wichtige Tatbestände in Organisationen zu stark vereinfacht gesehen werden und damit die „Kontroll- und Machbarkeitsillusionen gestärkt wird“ (Wimmer 2009, S. 35 f).


¹Konflikte zwischen Organisationseinheiten, mit unterschiedlichen Zielen, Arbeitslogiken oder Kulturen (z.B. Vertrieb oder Personalwesen und Produktion) sind unvermeidbar (Vgl. Schwarz 2003).

²Vermeidbar sind alle Konflikte auf der Beziehungsebene. Es ist möglich, auf der Sachebene miteinander zu kooperieren, obwohl man sich auf der Beziehungsebene nicht mag, statt Beziehungskonflikte auf der Sachebene auszutragen. Vermeidbar sind auch Konflikte, die aufgrund von unklaren Organisationsstrukturen entstehen, z.B. durch nicht kommunizierte Erwartungen, unklare Verantwortungs- und Kompetenzbereiche (Ebenda).

³Mediation ist eine Kunst, Konflikte in einer konstruktiven Art und Weise zu deeskalieren und zu bearbeiten. Mediation ist eine eher informelle und außergerichtliche Art der Konfliktbearbeitung und strebt gegenseitiges Verstehen, gewaltfreie und konstruktive Kommunikation an. Mediation bietet eine Alternative zur direkten Konflikt- Austragung (zwei Leute streiten sich) bzw. zur administrativen Konfliktregelung – wenn beispielsweise eine dritte Person die Regelung übernimmt und entscheidet, was getan werden muss. (…)“( Dulabaum 2003, S. 8).


Literatur

http://update.hanser-fachbuch.de/2014/10/schnittstellenmanagement-in-agilen-unternehmen/

http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/stab.html#definition

http://www.hubertbaumann.com/2012/08/02/business-development-definition-abgrenzung/

J. Mike Jacka, Paulette J. Keller:Business Process Mapping Workbook. Improving Customer Satisfaction, John Wiley & Sons Inc., New Jersey 2009

Lackner, Karin: Widerspruchsmanagement als Kriterium der Gruppenreife. In: Heintel, Peter (Hrsg.) betrifft: TEAM. Wiesbaden 2006 S. 85-91

Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. 2003

Schwarz, Gerhard: Konfliktmanagement: Konflikte erkennen, analysieren. Wiesbaden 2003