Vom Sollen und Wollen auf dem Weg in die Selbstorganisation

von Sabine Piemeisl

 

„Wo ich bin, will ich sein. Und wenn ich mich entschieden habe, bin ich 100% präsent.“ Jens Corssen

1. Mögliche Auslöser und Motivationslagen, Selbstorganisation zu wagen

„Weil unsere Führungskräfte es nicht mehr hinkriegen, das Unternehmen erfolgreich zu leiten, sollen wir jetzt selbstorganisiert arbeiten.“ Diesen Satz formulierte ein Teilnehmer im Team-Coaching für ein Unternehmen, das sich als streng hierarchisch strukturierte und geführte Organisation auf den Weg in die Selbstorganisation begeben hatte. Nun bietet diese Aussage eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten und Anregungen zum Nachdenken.

Die oben kriegen es nicht mehr hin, jetzt sollen wir hier unten es wuppen. Wir könnten uns schon vom schwachen Verb hinkriegen dazu verführen lassen, Kompetenzen einzelner Führungskräfte auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen im Unternehmen zu analysieren. Sicherlich würden wir, mit einem entsprechend defizitären Blick, fündig. Wahrscheinlich hat die eine oder der andere in funktionaler Führung (noch) nicht genügend Kraft und Kompetenzen entwickelt, um in Führung gehen zu können oder zu wollen. Doch reicht der fokussierte Blick auf Führungspersönlichkeiten und deren individuelle Kompetenzen nicht aus. Er ermöglicht keine sinnstiftenden Erklärungen dafür, aus welchen Gründen Unternehmen eine bisher gewohnte hierarchische Führungsstruktur verlassen und den Weg in die Selbstorganisation beschreiten. „Sie sind keine verschwindende Minderheit mehr, es sind nicht mehr ein paar Spinner oder Gutmenschen, die ihr Unternehmen anders führen und gestalten, als man es kennt und erwartet, als man es in jedem betriebswirtschaftlichen Studium gelernt hat. Sie sind keine Aussteiger, sondern ökonomisch erfolgreich, also ‚Teil des Systems’, mit zufriedenen Mitarbeiter*innen und angstfreien Manager*innen.“ (changeX – Unternehmen, die es anders machen 2017 S. 1) Das Paradigma der traditionell hierarchisch gegliederten Organisation zu verlassen und innovative Steuerungsformate zu entwickeln, erfordert starke Auslöser und Motivlagen, wie zum Beispiel:

  • Generationenübergabe in Familienunternehmen und die damit einhergehende Ablösung von Haltungen und Vorstellungen der Vorgängergeneration
  • Impulse aus den relevanten Umwelten des Unternehmens (der beschleunigte soziale und gesellschaftliche Wandel, veränderte politische, gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen, stetige Professionalisierung etc.)
  • Veränderte Anforderungen und Erwartungen von Kund*innen
  • Rasches Wachstum des Unternehmens
  • Erhöhung der Komplexitätsanforderungen
  • Persönliche Anliegen und Wertvorstellungen der Unternehmensleitung oder Inhaber*innen (Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, Sinnorientierung, Abbau von Überlastung, Neugier, veränderte Visionen etc.)

Disruptive Umweltveränderungen fordern neue Organisationsformen und Organisationsprinzipien. Eine mögliche Antwort darauf ist, Selbstorganisation im Unternehmen auf die Bühne der sogenannten VUKA-Welt[1] zu bringen.

 

2. Das Sollen und die Herausforderungen auf dem Weg in die Selbstorganisation

Versuchen wir nun herauszufinden, ob das Sollen im Mindset der Akteure ein erfolgreiches Bühnenstück namens Selbstorganisation hervorbringen kann. Kommen wir zunächst auf die Aussage des Mitarbeiters aus dem Workshop zurück und betrachten den zweiten Teil des Satzes: „…, sollen wir jetzt selbstorganisiert arbeiten“. Sollen ist im deutschen Sprachgebrauch ein Modalverb. Dieses Verb drückt eine Notwendigkeit aus, die sich aus einer Aufforderung an das Subjekt ergibt. Es bedeutet einen Appell, eine Anweisung oder einen Auftrag zu haben, etwas Bestimmtes zu tun. Gehen wir mal davon aus, das Sollen sei typisch für die Funktionalität hierarchisch gegliederter Organisationen. Jahrzehntelang war das auf Max Weber und Frederick W. Taylor zurückgehende funktionale Gliederungsprinzip geprägt von einer dominanten Organisationslogik. Die Funktionalität der Hierarchie hatte und hat Vorteile: Sie ist zur Koordination vieler Personen und Handlungen in der Lage, kann unterschiedliche Teileinheiten der Organisation integrieren, schafft Spezialisierung, Standardisierung, klare Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche. Zum Gelingen entwickelte sie u.a. eine hohe Gliederungstiefe, Entscheidungszentralisation, geringe laterale Koordination und eine große Menge formaler Regelungen. Die Führungsrichtung verläuft von oben nach unten. Entscheidungen darüber, was getan werden soll, werden von anderen Personen getroffen als von denjenigen, die dies umzusetzen haben. Oestereich und Schröder nennen diese Vorgehensweise das Push-Prinzip (Oestereich/ Schröder 2020). Was eine hierarchisch gegliederte Organisation braucht, sind Mitarbeitende, die das Sollen im moralischen Sinn der Aufgabenerfüllung, des Respekts und der Loyalität ernst nehmen, sich entsprechend verhalten und handeln. So weit, so funktional.

Selbstorganisation ist ebenfalls als ein Prinzip der Ordnungsbildung in sozialen Systemen zu verstehen Es gelten jedoch andere Organisationsprinzipien. „Aktuell sieht es so aus, als ob in Zeiten der Arbeitswelt 4.0 die netzwerkartige Kooperation für diese Anforderungen am vorteilhaftesten ist. In der Konsequenz findet sich ihr Kooperationsmuster auch in vielen unterschiedlichen Methoden und Ansätzen wieder.“ (Geramanis 2020 S.17) Gestaltende Einflüsse und strukturelle Ordnungen gehen von den Elementen des Systems selbst aus. Sich der Selbstorganisation zu stellen birgt die Herausforderung, „neue“ Arten ineinandergreifender Strukturen, Kopplungen und der Zusammenarbeit zu gestalten, die bislang aus keinem der bisher bekannten Mechanismen und Organisationsmustern eins zu eins übertragbar wären.[2]

Der zitierte Mitarbeiter erlebte einen Top-down-Ansatz, der die Implementierung von Selbstorganisation im Gesamtunternehmen beabsichtigte. An diesem Ausgangspunkt des Unterfangens scheint das Sollen unangetastet zu bleiben. Der Appell der obersten Führungsebene, kollegiale Führung umzusetzen, birgt eine Paradoxie in sich: Hierarchie initiiert Selbstorganisation. Kann das gelingen? Anscheinend ja. Entsprechende Transformationsprozesse, angestoßen und ermöglicht von der oberen Führungsebene, sind bereits in vielen Wirtschafts- und Sozialunternehmen sowie auch in Institutionen erfolgreich gewesen. Was spräche auch dagegen? Wollen und Einfluss der oberen Hierarchieebenen können am Anfang des Weges in die Selbstorganisation stehen. Vor allem in streng hierarchisch strukturierten und geführten Organisationen braucht es Initiator*innen, die mit funktionaler Macht ausgestattet sind. Doch kommen Organisationen nicht weit, wenn Führung sich nicht gleichzeitig im Loslassen übt. Damit den obersten Führungskräften geglaubt werden kann, müssen sie die hierarchische Pyramidenstruktur der Organisation, die Führungsrichtung von oben nach unten sowie auch sich selbst in ihrer bisherigen Führungsfunktion in Frage stellen. Will das neue Bühnenwerk Selbstorganisation erfolgreich werden und seinem Namen alle Ehre machen, heißt es Abschiednehmen von der Illusion der Machbarkeit und der Planbarkeit – besonders von der Idee, „die an der Unternehmensspitze“ könnten weiterhin uneingeschränkte Regie führen, müssten alles verstehen, verantworten und steuern.

Im Rahmen der neuen Organisationsausrichtung braucht es ein zunehmendes Bewusstsein der Führung darüber, dass die formale Macht in der Selbstorganisation fachlich oder situativ begründet ist und sich immer wieder verändert (siehe Eugster Stamm/ Kaegi 2019 S. 257). „Kollegiale Führung ist die auf viele Kollegen dynamisch-selbstorganisierte verteilte Führungsarbeit an Stelle auf spezielle und vorgesetzte Führungskräfte konzentrierte.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 8) Damit verschwindet nicht die Macht aus der Organisation. „Die gewohnte Linienabstufung der Macht fällt weg. Es kann nicht mehr von oben nach unten durchgegriffen werden, aber auch nicht von unten nach oben. Trotzdem bleibt Macht ein wesentlicher Faktor, sie wird durch Selbstorganisation nicht aus der Organisation verbannt.“ (Eugster Stamm/ Kaegi 2019 S. 256) Die Machtverteilung ändert sich. Führung kann nicht länger funktions- und personenbezogen bleiben, sondern stellt sich mehr und mehr in den „Dienst der Sache“ selbst. Sinn-Orientierung, in der die Struktur, die geltenden Regeln der Ausfüllung, die Leistungen der Mitarbeitenden und nicht zuletzt Führung dem Sinn der Organisation dienen, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Führung wird verstärkt als ein sozialer Prozess gedacht, als ein Resonanzgeschehen (siehe Rosa 2016) und nicht als eine – an definierte Personen geknüpfte – Funktion. Mitarbeitende werden mit Macht und Einfluss ausgestattet. Ermächtigte Mitarbeitende, Teams und Einheiten der Organisation entscheiden in einem verbindlichen und klar kommunizierten Rahmen selber, was sie erledigen können und wie sie dies am besten tun. Durch transparente Wahlen nehmen Mitarbeitende für einen vorab festgelegten Zeitraum Rollen ein. Eine Rolle wird in diesem Kontext definiert als Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich innerhalb einer Organisationseinheit, die von einer gewählten Person wahrgenommen wird und bestimmten sachdienlichen Themen (Finanzen, Planung, Repräsentation, Lernbegleitung, fachliche Themen etc.) zugeordnet ist. Das Management lernt, die Rolleninhaber*innen und Teams zu unterstützen und zu erkennen, welche Kontexte bei Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. So fördert es Selbststeuerung und Selbstorganisation. Enorme Schieflagen entstehen allerdings dann, wenn die unmittelbare Verfügbarkeit und Nutzungsbefugnis von Ressourcen (Zeit, Geld, Zugang zu Daten und Informationen, Raum, Beziehungen etc.) als quasi „letzte Insignien der Macht“ hauptsächlich auf den hierarchischen Führungsebenen belassen bleiben. In orientierenden internen Kommunikationsprozessen, analog oder digital, sind Diskurse und vielschichtige Aushandlungen darüber nötig, welche Zugänge zu Ressourcen und welche Befugnisse in welchem Maß der Kolleg*innenschaft übergeben werden. Der organisationsinternen Kommunikation kommt in den dynamischen Veränderungsprozessen hin zur Selbstorganisation eine zentrale Bedeutung zu. Sie erfährt einen Wandel von rein funktional-instrumentellen Zielen zu einer Kommunikation auf Augenhöhe. Sie informiert ganzheitlich, konstituiert, reproduziert, entwickelt Strukturen und versetzt Rollenträger*innen und Teams erst in die Lage, selbstverantwortlich im Sinne der Gesamtorganisation zu entscheiden, zu handeln und Risiken zu übernehmen (Jecker/ Huck-Sandhu 2019 S. 366). Diese Neuausrichtung interner Kommunikation ist auch eine Grundlage dafür, dass Entscheidungskompetenzen dorthin wandern können, wo die Dinge geschehen. Um all diese Paradigmenwechsel zu initiieren, sinn- und wertvoll zu gestalten, mit Leben zu füllen und die damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen, reicht ein Sollen nicht aus.

 

3. Selbstverantwortung übernehmen – Sollen oder Wollen?

Das Sollen der Mitarbeitenden im moralischen Sinn der Aufgabenerfüllung, wie es in der Funktionalität hierarchisch gegliederter Organisationen von Bedeutung ist, verliert auf dem Weg zur Selbstorganisationen nicht nur seinen Nutzen, sondern lädt schon auf den ersten Metern der Wegstrecke zu kontraproduktivem, ungünstigem Verhalten ein. Damit der Transformationsprozess gelingen kann, braucht es die Ausrichtung der Kolleg*innenschaft auf das Prinzip der Selbstverantwortung. Dieses Prinzip ist über Machtverteilung, neu entstehende Organisationsstrukturen, Kommunikations- und Entscheidungsszenarien mit anderen sowie auch mit dem Ganzen gekoppelt und hat die Anliegen der Kund*innen ebenso wie den Sinn des Unternehmens im Fokus. Ohne die Übernahme von Selbstverantwortung durch die Mitarbeitenden, erweitert um die Perspektive auf Gesamtverantwortung für das Unternehmen, wird der Weg in die Selbstorganisation versperrt bleiben. Schon fächert sich eine nächste Herausforderung auf. Selbstverantwortung kann nicht eingefordert werden, Verantwortung kann nur übernommen werden. Selbst durch intensive Teamentwicklungen können in Organisationen keine „Gemeinschaften“ hergestellt werden, in der die „Erzwingbarkeit nichterzwingbarer Leistungen“ (Fuchs 2014) oder die Freiwilligkeit zur sozialen Pflicht gemacht werden könnte. „[Ich] schlage vor, das klingt vielleicht paradox, [dass] man sich um ein weniger technisches, dafür um ein mehr menschliches Verständnis bemüht. Man ist in der Absicht zurückhaltender, Wirkungen zu erzeugen […]. Man trifft z.B. in Organisationen häufig auf die Vorstellung: ‚Wir müssen die Mitarbeiter motivieren!‘, statt ihnen Gelegenheiten zu bieten, sich selber zu motivieren.“ (Luhmann 1997 S. 72)

In der klassisch hierarchischen Organisationsstruktur sind Denken und Handeln, Entscheiden und Umsetzen offiziell voneinander getrennt. Diese Vorgehensweise führt zu Verantwortungsverlusten. „Die Umsetzer fühlen sich allenfalls verantwortlich für ihr unmittelbares Ergebnis, nicht aber für die Lösung des dahinterliegenden Problems und der Bedeutung der Problemlösung. Und die Führungskräfte sind zwar hierarchisch verantwortlich für ihre Entscheidungen, versuchen aber, diese der Umsetzung zuzuschreiben.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 36) Wenn in der Selbstorganisation sukzessive eine Einheit von Denken und Handeln bzw. Entscheiden und Umsetzen ermöglicht wird, können Gestaltungsräume jenseits von sinnfreien Erzeugungsversuchen entstehen. Wenn Arbeit nicht länger verteilt, die Verantwortung für Ergebnisse oder Problemlösungen den Mitarbeitenden nicht mehr zugeschoben würde, könnten sie von geeigneten Personen wahrnehmbar und übernommen werden. Unabdingbar ist das Sichtbarmachen von ganzheitlichen Arbeitsprozessen, Aufgaben, Ideen und auch Spannungen im jeweiligen Arbeitsbereich sowie den internen Schnittstellen der Organisation. Dies kann über die konsequente Einführung und Pflege von Kanban-, Team- oder Companyboards gelingen. Arbeit und Verantwortung treten so in die Aufmerksamkeit einer Person, die sich dann entscheiden kann, sie zu übernehmen (ebenda). Ebenso kann sich eine Person von einem Problem oder einem Konflikt so angesprochen oder provoziert fühlen, dass sie es lösen will (Wohland 2019). Statt des Push-Prinzips entsteht dann ein Pull-Prinzip. Von der anstehenden Arbeit, den zu lösenden Problemen geht in der Selbstorganisation ein Sog aus, von dem sich die Mitarbeitenden motivieren lassen, die Sache anzugehen und Verantwortung zu übernehmen. „Das Sogprinzip ist elementar, unverzichtbar und unersetzlich für eine agile Organisation. Ohne Anregung eines Sogs durch geeignete Strukturen und Prozesse wird es zu keiner proaktiven Selbstorganisation kommen.“ (Oestereich/ Schröder 2020 S. 36)

Wenn sich im Rahmen der beschriebenen Umgestaltungen das Pull-Prinzip zu einem der grundlegenden Organisationsprinzipien der Selbstorganisation entwickelt und ausdifferenziert, entfernen sich die Organisationsmitglieder immer weiter vom Sollen. Dürfen die Mitarbeitenden einen Verantwortungsbereich und die darin enthaltenden Aufgaben übernehmen, weil er ihnen zur Verfügung gestellt wird, kann sich auch das Wollen[3] entfalten. Was genau wollen wir übernehmen, wen oder was brauchen wir dazu, wer von uns übernimmt was? (Siehe Kontextbrücke; ebenda S. 58) Sogleich richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Ausweitung und Stabilisierung des Könnens sowie eine Einübung neuer Haltungen der Mitarbeitenden. Wissen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen wollen erworben, ausprobiert und in einem fortwährenden schleifenförmigen Prozess reflektiert werden. Alle Akteure im Bühnenstück der Selbstorganisation tun gut daran, unterschiedliche Formen des Lernens, von externen oder internen Expert*innen begleitet, zu nutzen. Organisationsbegleitung, Coachings, Trainings und Workshops bieten sich als geeignete Formate an.

Ermöglichung, Förderung und Erhaltung intrinsischen Antriebspotenzials aller am Prozess Beteiligten verhilft zu langem Atem. Den braucht jede Organisation auf ihrem Weg in die Selbstorganisation und zur Überwindung von Stolpersteinen verschiedener Art. Mit dem aus der hierarchisch strukturierten und geführten Organisation gewohnten Sollen kommen die Akteure über die erste Wegstrecke nicht hinaus. Das Wollen auf allen Ebenen der Organisation ist der relevante Motivationsmotor.

 

4. Was wir von hier aus sehen können – Zusammenfassung in Thesen

„Bei dem neuen Paradigma, das wir erschaffen müssen, geht es darum, Systeme zu kreieren, die das Beste in jedem/r von uns hervorbringen.“ (Grace Lee Boggs, 2010 )

  • Die Führung und besonders die oberste Leitungsebene braucht Mut, sich auf neues Terrain zu wagen. Es sind hauptsächlich disruptive Umweltveränderungen und steigende Komplexitätsanforderungen, von denen Impulse mit starkem Aufforderungscharakter ausgehen, um Selbstorganisation als Struktur- und Steuerungsformat zu etablieren.
  • Selbst wenn das Sollen anfänglich noch von Bedeutung ist, braucht die Entwicklung von einer hierarchisch strukturierten und geführten Organisation zur Selbstorganisation das Wollen auf allen Ebenen der Organisation, um enorme Paradigmenwechsel zu initiieren, auszuhalten und zu gestalten.
  • Auch wenn Selbstorganisation durch einen Top-down-Ansatz initiiert wird, liegt es bald nicht mehr an den vorgesetzten Führungskräften, zu sagen, was zu tun ist.
  • Der eingeschlagene Weg in die Selbstorganisation kennt keine Abkürzungen. Selbstorganisation lässt sich nicht anordnen, geschweige denn erzwingen. Sie organisiert sich in Ermöglichungsräumen selbst und kann in jeder Organisation unterschiedlich sein.
  • Rollenträger*innen und Teams kann ermöglicht werden, selbstständig zu erkennen, was ansteht, welche Entscheidungen zu treffen und welche Handlungen nötig sind, um die Organisation voranzubringen.
  • Die Verteilung von Autorität und Macht ist ebenso maßgeblich für eine gelingende Selbstorganisation wie das Zur-Verfügung-Stellen und die Nutzungsermöglichung von Ressourcen.
  • Der Grad der Selbstorganisation „ergibt sich“ aus der Kompetenzentwicklung, der erlaubten, zugetrauten und aktiv übernommenen Selbstverantwortung von Rollenträger*innen und Teams.
  • Die Ausrichtung der organisationsinternen Kommunikation auf Augenhöhe spielt in diesem Transformationsprozess eine zentrale Rolle.
  • Der Prozess will von unterschiedlichen Formen des Lernens und der Kompetenzentwicklung unterstützt werden. Externe und interne Lernbegleitungen für Führungskräfte und Mitarbeitende unterstützen den Prozess ebenso wie ritualisierte Reflexionsformate.
  • Das Oben-Unten-Schema der klassischen Hierarchie verflüchtigt sich nicht von selbst. Es ist nützlich für alle Organisationsmitglieder, sich auf dem Weg in die Selbstorganisation von der Zuversicht begleiten zu lassen, dass sich Veränderungen sukzessive konkretisieren, durch Phasen der Erprobung sowie auch des kreativen Scheiterns wirksam und als belastbare Strukturen und Entwicklungen etabliert werden können.
  • Erst durch viele unterschiedliche Ermöglichungen kann sich das bisher gewohnte Paradigma des Sollens in kleinen Schritten zum Wollen transformieren. Dieser Prozess ist zeitintensiv und anstrengend. Was wir jedoch von hier aus sehen können, scheint es sich unbedingt zu lohnen, sich auf den Weg zu machen.

[1] VUKA ist ein Akronym, mit dem verschiedene Facetten der Unübersichtlichkeit der modernen Arbeitswelt umrissen werden:

Volatilität – Flüchtigkeit: Alles kann sich schnell verändern.

Unsicherheit – Sichere Prognosen sind in Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr möglich.

Komplexität – Vieles hängt mit Vielem zusammen, erzeugt Wechselwirkungen und Risiken.

Ambiguität – Mehrdeutigkeit: Jede Beschreibung/ Erklärung/ Bewertung könnte auch anders sein.

[2] Selbstorganisation ist nach dem Verständnis einiger Autoren, z.B. Stefan Kühl, eine alte Managementmode mit neuer Begrifflichkeit (Kühl 2018). Eine interessante Auseinandersetzung mit Kühls Kritik an der Selbstorganisation hat Peter Zängl geschrieben (Zängl 2020).

[3] Wollen interpretiere ich in diesem Zusammenhang als eine Fähigkeit des Menschen, sich für bestimmte Handlungen zu entscheiden. Für Immanuel Kant sind Wille und Freiheit unmittelbar miteinander verknüpft. In seiner Philosophie erlebt der Mensch durch Wahlfreiheit das Abwägen des Willens. Der Entscheidungsprozess durch Maximen und den kategorischen Imperativ bezeichnet die Freiheit des Willens für vernunftgeleitete Wesen bei Kant.


Literatur

ChangeX: Unternehmen, die es anders machen: Organisieren, Steuern, Führen. Online-Medium für Zukunftsideen, neue Wirtschaft und Innovation www.changex.de 2017

Corrsen, J.: Der Selbst-Entwickler. Wiesbaden 2013

Eugster Stamm, S. & Kaegi, U.: Von Orange zu Türkis: Herausforderungen für die Führung beim organisationalen Wandel zu einer integral-evolutionären Organisation. In: Fröse, M. & Naake, B. & Arnold, M. [Hrsg.]: Führung und Organisation. Neue Entwicklungen im Management. Wiesbaden 2019

Fuchs, P.: Organisation und Communio – zur Crux der Selbstbeschreibung von Organisationen als Familie. In: Geramanis, O. & Hermann, K. [Hrsg.]: Organisation und Intimität. Umgang mit Nähe im organisationalen Alltag zwischen Vertrauensbildung und Manipulation. Heidelberg 2014

Jecker, C. & Huck-Sandhu, S.: Von der Information zur Orientierung. Zur (neuen) Rolle der internen Kommunikation in der Selbstorganisation In: Geramanis, O. & Hutmacher, S. [Hrsg.]: Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt. Wiesbaden 2020

Kaegi, U. & Zängl, P.: Was ist Management? In: Wöhrle, A. [Hrsg.], Organisationsentwicklung Change Management. Nomos-Verlag. Baden-Baden 2019

Kühl, S.: Agilität, Holacracy und andere Managementmethoden…https://www.youtube.com/watch?v=LPlztwNSxyg.) 2018

Luhmann, N: Wie konstruiert man in eine Welt, die so ist, wie sie ist, Freiheiten hinein? In: Bardmann, T. [Hrsg.]: Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie. Opladen 1997, S. 72.

Oestereich, B. & Schröder, C.: Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München 2020

Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016

Wohland, G.: Unternehmensentwicklung in Zeiten hoher Dynamik. In: Geramanis, O. & Hutmacher, S. [Hrsg.]: Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt. Wiesbaden 2020

Zängl, P: «Einwurf» – Selbstorganisation zwischen Mode und Innovation. Zur Kritik von Stephan Kühl an den Konzepten der Selbstorganisation. https://netzwerkselbstorganisation.net/artikel/2020_5/


Autorin:
Sabine Piemeisl Dipl. Politologin, MA Organisationsberatung Supervision Coaching mit über 25 Jahren Erfahrung als Unternehmerin.

Impulsgeberin und Prozessbegleiterin für agile Organisationsentwicklung, Coach und Supervisorin DGSv, Trainerin, Mediatorin, Moderatorin.

www.piemeisl-consulting.de